Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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238 Gunter Giesenfeld<br />
Wenn also auch solche an die <strong>Argument</strong>e der damaligen „Kinoreformer"<br />
erinnernden Gedanken in der bürgerlichen Trivialliteraturforschung<br />
landläufig sind 6 , so kann man es sich doch gefahrlos<br />
leisten, sie scheinbar progressiv einzuschränken. Dabei tritt die<br />
andere Seite dieser zwiespältigen Haltung zum Gegenstand in den<br />
Vordergrund: die Verniedlichung, Bagatellisierung oder gar Apologie<br />
der Trivialliteratur aus der Erkenntnis ihrer systemstäbilisierenden<br />
Funktion. „Aber in der Regel wird ein gesunder Organismus<br />
damit fertig, ja, es kann sogar vorkommen, daß er nachher gesünder<br />
ist als vorher 7 ." Hier ist direkt die Erkenntnis ausgesprochen, daß<br />
diese Art von ideologischer „Dauerimpfung" nützlich und notwendig<br />
sein kann.<br />
Die Arbeit von Klaus Ziegler läßt sich in dieser Hinsicht als ein<br />
besonders deutliches Beispiel da<strong>für</strong> anführen, zu welch seltsamen<br />
Formulierungen ein solcher Standpunkt führen kann: „Wenn der<br />
Mensch die momentane Problemlosigkeit, in die ihn die Unterhaltungs-<br />
und Schundliteratur hineingaukelt, zur dauernden Flucht<br />
vor jeder ernsthaften Problematik überhaupt verabsolutieren will:<br />
dann muß eine derartige Lektüre lebensmäßig lähmend, ja, zerstörend<br />
wirken und darum negativ bewertet werden. Wenn sich hingegen<br />
der Mensch der Unterhaltungs- und Schundliteratur im klaren<br />
Bewußtsein ihrer lebensmäßig (und, was hiermit eng zusammenhängt,<br />
auch ihrer ästhetischen) Relativität hingibt (...), dann kann<br />
auch die Unterhaltungs-, und bis zu einem bestimmten Grade auch<br />
die Schundliteratur lebensmäßig fruchtbar wirken und darum wertmäßig<br />
bejaht werden" (c 567).<br />
Wenn man diesen Satz, in dem sich die ganze Arbeit Zieglers zusammenfassen<br />
läßt, in Klartext übersetzt, so ergibt sich eine überraschend<br />
zutreffende Beschreibung der Funktion der Trivialliteratur.<br />
Denn allerdings könnte eine Überprüfung der Ideale auf ihre<br />
Anwendbarkeit in der Realität zu „lähmenden und zerstörenden"<br />
Erkenntnissen führen über eine Herrschaft, die sich immer noch mit<br />
diesen Idealen zu legitimieren versucht. Diese Legitimation würde<br />
im Bewußtsein des seine Situation erkennenden Lesers dann in Frage<br />
gestellt, wenn er die Freiheit und Selbstbestimmung, der sich die<br />
Helden seiner Romane deshalb erfreuen, weil sie als Angehörige<br />
der obersten Schichten den Widersprüchen des Systems entzogen<br />
sind, auch <strong>für</strong> sich in Anspruch nähme. Negativ bewertet kann dies<br />
aber nur von denen werden, die an der Aufrechterhaltung des Systems<br />
interessiert sind. Allerdings „fruchtbar" ist die Trivialliteratur<br />
dann, wenn sie nur relativ wirkt, wenn sie harmonisiert,<br />
statt aufzuklären, wenn sie die grundsätzliche Ordnung bestätigt und<br />
die realen Frustrationen vergessen läßt. Dann kann die Triviallitera-<br />
6 „Billiges, süffiges Rauschgift" (Holthusen), „willens- und denklähmende<br />
Narkotika der Kolportage" (Egenter) zitiert Bayer, S. 171.<br />
7 E. Ackerknecht, Der Kitsch als kultureller Übergangswert, Bremen<br />
1950, S. 22.