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Hochgesangs Wandlungen des Dichtstils - Leben und Werk des ...

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I l0<br />

Die Sprnche<br />

Dotothea'l'ieck<br />

ll7<br />

T. IV/lll. Nicht stürmte der Tyrann in ihren<br />

Frieden ?<br />

Es kommt auch die entgegengesetzte Erscheinung vor'<br />

also eine Entsprechung von perfektiven Fortnen bei Tieck<br />

nrit inrperfektiven bei Schiller. Darin liegt keinWiderspruch<br />

gegen das obelt Gesagte <strong>und</strong> Gezeigte. Vielntehr deutet<br />

gerade diese Erscheinung attf letzte Wurzeln ttnd Unterscheidungen:<br />

Sch. IV/VII.<br />

T. rv/1il.<br />

Ich kann nicht daran denken, daß das lebte,<br />

Was ntir das Teuerste auf Erden rvar.<br />

Vergessen kann ich nicht, daß das gewesen,<br />

Was mir das Liebste war.<br />

Sch.lV/\tl.<br />

Und sie, die dich gebar,<br />

Weit öfter auf den Knieen als itn Glanz,<br />

Sie starb an jedern Tage, den sie lebte'<br />

Sclt. lViVI. Noch eh du kaurst,<br />

Ist schon der alte Seiward, wohlgerüstct,<br />

Mit einem Heer nach Schottland aufgebrochen.<br />

Der Leser muß hier fühlbarer als sonst, urn die Stelle<br />

zu verstehen, eine innere Umstellung vornehmen. Er mttß<br />

seine Zeitperspektive verwandeln, aus einer Stilsphäre in<br />

die andere treten. Wer nrit romantischetn Sprachklang int<br />

Ohr an die Fassung Schillers herantritt, vermag tiicht<br />

ohne weiteres deren Sinn zu erfassen. Denn er wird die<br />

Form ,,lebte" mit dem Gefüht zeithafter Dauer durchdringen.<br />

Um das Gegenteil aber handelt es sich: ,,lebte" soll<br />

sagen,,aufgehört hat zu leben". Es ist nicht irnperfektisclt,<br />

es ist perfektisch zu fassen. Die Stelle beleuchtet schlaglichtartig<br />

alle übrigen diesbezüglichen Fortnen. Wie kÖnnte<br />

Schiller das Imperfekt plötzlich in so ausgeprägter Weise<br />

perfektisch verwenden, wenn es in seinem Stile nicht<br />

durchweg einen zumin<strong>des</strong>t verwandten Charakter trüge.<br />

Bestätigend treten andere Beispiele hinzu. Nur zwei<br />

nöchte ich herausgreifen:<br />

,,Uul zu verstehen, was ich meine, bedenke rnan, wie<br />

der rnenschliche Geist sich fortwährend in zweierlei Zeitanschauungen<br />

bewegt, in einer prirnären <strong>und</strong> einer sek<strong>und</strong>ären,<br />

einer unmittelbar geschauten <strong>und</strong> einer begrifflich<br />

konstruierten. Die unmittelbare Zeitanschauung ist Sensation,<br />

Empfindung, innerliches Erlebnis, Rhythntus, unteilbare,<br />

konkrete. fortlaufende Dauer. Sie ist der Putsschlag<br />

<strong>des</strong> <strong>Leben</strong>s, in den der Geist sich einfühlt, den er<br />

anschaut, in<strong>des</strong> er sich von ihm tragen läßt. Die mittelbare<br />

Zeitanschauung ist ein abstraktes, räumliches Geschehen,<br />

ist gemessene, geteilte, in die Außenwelt hinaus projizierte<br />

Zeit. Henri Bergson, der den Unterschiedieser<br />

beiden Zeitformen wohl am klarsten herausgearbeitet lrat,<br />

nannte die erste le temps qualit6, oder auch Ia durde r6elle,<br />

die zweite lc temps quantit6, ternps 6tendu, temps spatialise.<br />

(Karl Vossler in ,,Frankreichs Kultur im Spiegel<br />

seiner Sprachentrvicklung")t). In dieser Unterscheidung<br />

liegt auch der Schlüssel für unsere Frage. Die räumlichc<br />

Zeitanschauung Schillers steht gegen die innerliche dcr<br />

Tieck. Aus ruhender Warte betrachtet Schiller messend,<br />

teilend, begrenzend den Lauf der Dinge. Seine Vergangenheit<br />

ist eine abgeschlossene, fertige, als Zeit nicht mehr<br />

lebendige. So nähert sich in seinem stil auch das Imperfektum<br />

perfektivem Charakter. Nicht so in der Romantik:<br />

in ihren Formen wird das Vergangene noch einmal tönend,<br />

werdend, schwingend. Denn der romantische Mensch<br />

schwebt im Flusse der Dinge <strong>und</strong> was einmal gewesen,<br />

quillt noch in ihnr als Traum <strong>und</strong> Erinnerung.<br />

l) Heidelberg 1913, S.314.<br />

G.A. Bürger-Archiv<br />

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