Freiwild. Zum Beispiel Konrad - Hermann W. Prignitzer
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mich auch nur der Schuhe entledigt, dann sofort mich lang gemacht, was zwar nicht erlaubt<br />
war, sich mit Oberzeug auf dem Bett zu räkeln, allenfalls in Unterwäsche, aber das auch nur<br />
nach dem Abendessen, ansonsten gehörte zum Bett das Nachthemd, und überhaupt war das<br />
Bett, war man nicht krank, letztlich für die Nachtruhe reserviert; „faules Pack“, wer schon<br />
tagsüber auf ihm erwischt wurde. Sich bewegen stählte die Willenskraft eines jungen Menschen,<br />
sich einzubringen in die Gesellschaft, die nicht weit kommen könnte mit Schlappheit,<br />
Laschheit, Trägheit, „nassen Säcken“. Alles Eigenschaften, die dem Klassenfeind in die Hände<br />
spielten, deshalb einem Jungen Pionier oder einem FDJler unwürdig waren. – Ja, ja, dieses<br />
und ähnlich Geartetes hörten wir zur Genüge, DDR-spezifisch rausgefiltert aus der geschichtsklitternden<br />
Komsomolzenbibel, die da hieß ‚Wie der Stahl gehärtet wurde‘, Heroenepos<br />
eines Nikolai Alexejewitsch Ostrowski (1904 – 1936) und aller DDR-Jugend Pflichtlektüre,<br />
doppelt und dreifach uns Heimlingen: Werdet wie Ostrowskis Pawel Kortschagin, aller<br />
Romanehelden heldenhaftester. – Ja, ja, solches hörten wir, wann immer es unseren Erziehern<br />
angemessen schien, dass wir’s hörten, und wer tagsüber auf dem Bett rumlungerte, hatte eine<br />
Extra-Lektion verdient, aber das ging mich ja nun nichts an, ich hatte ja angeblich Kopfschmerzen<br />
und durfte der Ruhe pflegen, hatte Herr Strassner durch Herrn Richter dem Herrn<br />
Rabelt ausrichten lassen, und wenn ich nun auch nicht einschlafen konnte, ich lag zumindest,<br />
ich musst’ mich nicht rühren, und das kam mir schon vor wie eine Gnade, liegen zu dürfen,<br />
mich nicht rühren zu müssen; dem Rabelt jetzt nicht und keinem Erzieher samt Freundeskreis<br />
die „Votze“ zu sein. Was allerdings eine endliche Gnade war, das wusst’ ich, der ich da döste;<br />
von Dauer die Ruhe nicht, die konnt’ jeden Moment ihr Ende haben. „Aufstehen, Wohlgemuth,<br />
mitkommen, Wohlgemuth“, konnt’s heißen. Jetzt, das Heim leer, fiel es schon gar nicht<br />
auf, riss man sich mich unter den Nagel. Niemandem gegenüber ein Vorwand nötig, warum<br />
ich mich dahin oder dorthin zu verfügen hatte. – Schon sechzehn war ich, und trotzdem hätte<br />
ich weinen mögen, aber weinen war mir nicht gegeben, wie ich da so döste, ich menschenseelenallein<br />
im Schlafsaal drei, und mir die Sehnsucht nach Herbert, auch nach Ludwig, aber<br />
diese Sehnsucht eine sinnlose, denn mich trösten, wusst’ ich, täte weder Herbert, noch Ludwig;<br />
denn wie sollten die mich trösten, wo die doch nicht einmal ahnten, dass ich eines Trostes<br />
bedurfte. Um ihn zu erlangen, hätte ich reden müssen. Auspacken müssen. Kundtun müssen,<br />
warum mich Strassner mal dahin, mal dorthin beorderte, und kam ich zurück, ob von da,<br />
ob von dort, kam ich an als arg Zugerichteter und war die nächsten Stunden, obwohl ich mich<br />
von einigen Schlafsaalkameraden inzwischen gern auch ficken ließ, aufs Penetriertwerden<br />
absolut nicht mehr aus; jedes weitere Mal eine weitere Qual. – Ja, ich hätt’ drüber reden müssen,<br />
wie in diesem Heim wohl so mancher darüber hätte reden müssen, aber weder mir, noch<br />
dem Karsten Knopf, die wir aller Unüblichkeit zum Trotz voneinander wussten, kam je zu<br />
Ohren, dass wer darüber geredet hatte. Als wäre das Darüber-Reden, wie wenn man sich eine<br />
Blöße gäbe. Würde es nicht heißen und war’s nicht auch so, dass man ein Schwächling war,<br />
ein Wicht, dass Männer wie Strassner einen knechten konnten? So ein Nichts war man? Oder<br />
tat man nur so, als käme man nicht drum herum? Womöglich sah es ja für alle, die nicht betroffen<br />
waren, so aus, als biederte man sich an, oder schlimmer noch: man wollt’s gar mit<br />
Männern, war ein Perverser. Was man ja nicht war, machten wir’s untereinander, egal, wie<br />
weit’s ging, was wir untereinander machten. Das war ja nur, weil, und das hörte ja auf,<br />
wenn... das war doch einzig und allein unserem beschissenen Dasein im beschissenen Heim<br />
geschuldet. Was man so konkret gar nicht aussprach; war doch eh klar, dass es so war. Und<br />
niemand, den Strassner für Sonderdienste einteilte, sprich: zu sich rief oder zu Rabelt schickte,<br />
machte denn also den Mund auf. Oder doch: nämlich ich eines Tages; eines Tages überwand<br />
ich mein Schweigen, aber um dies zu erzählen, ist dieser Geschichte Finale zu erreichen,<br />
und jetzt lag ich erst einmal, nicht zur Schule gemusst, auf meinem Schlafsaalbett, zuvor<br />
in Herrn Rabelts Bett von Herrn Rabelt wieder einmal gemeinst gequält. Also was wäre,<br />
sagte ich mir, der ich nun auf meinem Bett lag, Sehnsucht nach Herbert, nach Ludwig... was<br />
also wäre, käme jetzt Herbert, käme jetzt Ludwig? In die Arme nähmen sie mich, das schon,<br />
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