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Freiwild. Zum Beispiel Konrad - Hermann W. Prignitzer

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Zehn vor sechs war ich fällig. Immer rein in die Wunde, und das mit dem Monsterkaliber, das<br />

die Natur dem Rabelt verschwenderisch verpasst. – „Du, erzähl mal, wie is’n das, wenn man<br />

Eltern hat, und dann kommt so was wie Heiligabend? Is’ das dann auch so etwa wie hier?“<br />

Nee, so kannt’ ich es nicht. Aber was ich zu Hause nicht erlebte hatte, also so was wie mit<br />

Herrn Rabelt und, und, davon kein Wort; ich erzählte lediglich: „Na ja, bei uns zu Hause da<br />

war es immer so. Zuerst war Heiligabend Bescherung, und dann wurde gegessen. Meine Oma<br />

hat zu Heiligabend immer Kartoffelsalat gemacht, und dazu gab’s Wiener Würstchen, die<br />

kriegten wir immer vom Fleischermeister Runkelmann, mit dem wir irgendwie über mehrere<br />

Ecken verwandt war’n. Und nach’m Essen haben wir Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt. Und<br />

das hat gedauert. Vor zwölf musst ich Heiligabend schon mit acht nicht ins Bett. Silvester erst<br />

recht nich’.“ – Gott ja, so war es bei uns zu Hause zugegangen, und nun war ich sechzehn,<br />

und hatte seit drei Jahren ein Bett in einem Heim namens ‚Ernst Thälmann‘; mir kein Zuhause;<br />

wo ich nun, wir allesamt vom Freibad eingetrudelt, auf Karsten Knopf traf. – „Wie war es<br />

denn für dich heute Nachmittag, Karsten? War’s wieder schlimm?“<br />

„War wie immer, wenn Strassner freie Hand hat. Waren diesmal zu dritt. Strassner,<br />

Fuhrmann und dann noch einer. Wer, kann ich dir nicht sagen, kannt’ ihn nich’, wurde mir<br />

auch nicht vorgestellt. Hieß nur ‚der Mann‘. War so um die Vierzig, würde ich sagen. Zuerst<br />

hat Strassner gesagt, ich sollt’ so tun, als wär’ der Mann gar nich’ da, der würde nur zugucken<br />

wollen. Aber als Strassner und Fuhrmann mit mir fertig war’n, hieß es auf einmal: ‚So, nun<br />

lass mal noch den Mann an dich ran, bist grad so prima eingefickt.‘ Und damit hatten sie mich<br />

dann summa summarum eine Stunde und zehn Minuten am Wickel, bevor ich mich verkrümeln<br />

durfte. – Vorsicht: Jochen“, und das hieß: Vorsicht, Thema wechseln. Weil das, worüber<br />

Karsten und ich grad gesprochen hatten, das gehörte nun mal nicht in eines Dritten Ohr. Auch<br />

nicht in Jochen Brand seines, obwohl auch Jochen ab und an in Strassners Wohnung was zu<br />

richten hatte, und das hieß garantiert, dass er mit dem, worüber wir uns grad unterhalten hatten,<br />

was hätte anfangen können. Aber das war nun mal, wie schon erzählt, kein Thema unter<br />

uns Heimligen.<br />

„Habt ihr auch schon gehört, dass sie den kleinen Philipp Giesemann aus dem Schlafsaal<br />

eins letzte Nacht in Quarantäne gesperrt haben?“<br />

„Nee, davon weiß ich nichts, Jochen.“<br />

„Ich auch nicht. Hat er was Schlimmes?“<br />

„Der hatte gar nichts. Krank war er nich’. Die haben ihn nur über Nacht isoliert, damit sie<br />

ihn so lange verhör’n können, bis er zugibt, dass er Richter beklaut hat. Dem war nämlich<br />

seine Armbanduhr abhanden gekommen und da hat er die Spinde vom Schlafsaal eins durchsucht,<br />

und unter Philipps Sachen hat er sie dann gefunden. Aber der Junge ist zunächst dabei<br />

geblieben, dass er sich die Uhr nicht unter den Nagel gerissen hätte. Er wüsst’ nich’, wie sie<br />

in seinen Spind gekommen wäre. Von dieser Versionen abgegangen soll er erst gegen morgen<br />

sein. Was ja nur heißen kann, dass sie ihn die ganze Nacht in der Mangel gehabt haben. Das<br />

sind Methoden, was?“ –‚Ja, ja, zuzutrauen wären sie ihnen, aber in diesem Falle war es anders‘,<br />

hätte ich sagen müssen; denn mir war schlagartig ein Licht aufgegangen. Ich hatte<br />

nämlich bislang gerätselt, wie es Richter angestellt hatte, den Philipp Giesemann nachts unauffällig<br />

aus dem Schlafsaal zu klauben und ihn Stunden später dort wieder ebenso unauffällig<br />

abzuladen. Jetzt wusst’ ich’s: Philipp hatte allein in einem der vier Krankenzimmer gelegen<br />

„In Quarantäne gesperrt“, wie wir das nannten, hatte ein Heimling in so ein separat gelegenes<br />

Zimmer umziehen müssen. Was aber, ging es mit rechten Dingen zu, immer nur dann<br />

nötig war, wenn man nachts auf den Betreffenden ein Aug’ zu haben hatte. Bei hohem Fieber<br />

zum <strong>Beispiel</strong>, oder auffällig starkem Erbrechen oder schlimmem Durchfall, oder man musste<br />

dem Kranken nachts in gewissen Abständen ein Medikament verabreichen. Wir Älteren waren<br />

davon selten betroffen, mehr die aus Schlafsaal eins und zwei, insbesondere die aus<br />

Schlafsaal eins; die Sechs- bis Zehnjährigen flog noch fix mal was an. Oder auch nicht, ging<br />

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