Schauplaetze_SH.pdf
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48<br />
Robert Gajcevic<br />
Radioaktivität in der Luft. 43 Wolken trugen „den Fallout heran, der aus dem Krater<br />
am Unglücksort stammte.“ 44 Und zu Beginn des Monats Mai gingen ausgiebige<br />
Regenfälle über Deutschland nieder. Gerade der Maienregen, der im Volksmund<br />
Segen bringen soll. 45 Tschernobyl war somit für die Menschen kein ferner<br />
Unglücksfall, sondern eine vollkommen real gewordene und gegenwärtige Bedrohung<br />
der eigenen Lebensgrundlagen. Tiere und Felder schienen verstrahlt, die<br />
Nahrung auf lange Sicht verseucht. Die von Experten in Ost und West für<br />
„praktisch unmöglich erklärte Katastrophe“ 46 war nun doch eingetreten. „Mörderisches<br />
Atom“, so betitelte „Der Spiegel“ das Cover seiner aktuellen Ausgabe.<br />
47 Doch Störfälle dieser Art seien für die eigenen Reaktoren auszuschließen.<br />
So lauteten die Versuche von Politikern wie Franz-Josef Strauß, die eigene Bevölkerung<br />
wieder zu beruhigen. In Wirtschaftskreisen wurde dagegen von einem<br />
Preis gesprochen, den man für den technischen Fortschritt eben zu bezahlen<br />
habe. 48 Doch die Messschreiber „lieferten [diesen Beteuerungen seitens der Politik<br />
zum Trotz] steile Zacken.“ 49 Manche Bürger begannen beispielsweise Milchpulver<br />
zu horten, das noch aus der Zeit stammte, bevor der schmutzige Regen<br />
auf die Äcker und Weiden niedergegangen war. 50<br />
Am 7. Juni 1986 kommt es erneut zu einer Großdemonstration in der<br />
Wilstermarsch. In einem letzten Versuch, die Inbetriebnahme des AKW Brokdorf<br />
zu verhindern, versammeln sich 40.000 Menschen. Erst zwei Monate sind seit der<br />
Katastrophe von Tschernobyl vergangen. 51 Obwohl die Demonstration weitestgehend<br />
friedlich verlief, wurde sie schließlich von der Polizei durch den Einsatz von<br />
Tränengasgranaten aufgelöst. So kam es, dass die von tiefen Wassergräben durchzogene<br />
Landschaft der Wilstermarsch zum Schauplatz vor Polizei und Qualm<br />
flüchtender Demonstranten wurde. 52<br />
Im Oktober, also nur knapp ein halbes Jahr nach dem Vorfall in Tschernobyl,<br />
wurde das AKW Brokdorf schließlich in Betrieb genommen. Es liegt nahe, aus<br />
dieser Abfolge der Ereignisse eine gewisse Ironie herauszulesen. Denn gerade jetzt,<br />
da aller Welt die Gefahren der Kernenergienutzung vor Augen geführt worden<br />
waren, da entschied sich die Schlacht um Brokdorf zu Gunsten jener, die stets alle<br />
Gefahr geleugnet hatten. Für die Anti-Atomkraft-Bewegung eine schmerzliche<br />
Niederlage, schließlich war Brokdorf nicht nur einer von vielen Meilern. Brokdorf,<br />
das war und ist „das Symbol eines Widerstands gegen die Plutoniumwirtschaft“ 53 .<br />
43 Nowottny et al. (2001), S. 308.<br />
44 Kluge (1996), S. 7.<br />
45 Ebd.<br />
46 Der Spiegel (1986), S. 125.<br />
47 Ausgabe 19 im Jahr 1986.<br />
48 Der Spiegel (1986), S. 125.<br />
49 Ebd.<br />
50 Vgl. Kluge (1996), S. 7.<br />
51 Nowottny et al. (2001), S. 312<br />
52 Drieschner (2006), S. 2.<br />
53 Gremliza (1981), S. 163.