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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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fünfzig das Kilo verkauft werden. <strong>Ich</strong> habe dort vieles gefunden,<br />

was ich als Kind auswendig lernen musste, zum Beispiel<br />

Gedichte des berühmten Arbeiterdichters <strong>Wladimir</strong><br />

Majakowski. Vor zwanzig Jahren gefiel mir dieser Autor wegen<br />

seiner Rücksichtslosigkeit, seiner ehrlichen Art, die Leser<br />

anzusprechen: »Genossen, erlaubt mir, ohne Pose, schlicht<br />

menschlich …«, und dann ging es los. Majakowski dachte, er<br />

hätte die Gabe, die Zukunft einschätzen zu können. Doch egal,<br />

was er prophezeite, es kam immer anders. Wie ein Sklave der<br />

staatlichen Lotterie zog er ein Los nach dem anderen, bekritzelte<br />

es mit Zahlen und gewann doch nie etwas. Das ging so bis zu<br />

seinem Selbstmord. Kurz zuvor hatte er noch ein überaus<br />

optimistisches Gedicht verfasst, in dem er seinen Kollegen<br />

Jessenin kritisierte, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte:<br />

Unser Planet erweist für Späße wenig Gunst<br />

Jede Freude muss dem Kommenden entrissen werden<br />

Sich zu töten ist <strong>kein</strong>e große Kunst<br />

Schwerer ist das Leben bauen auf Erden<br />

- dichtete Majakowski und erschoss sich.<br />

Früher dachte ich, Majakowski hatte einfach Pech, eine falsche<br />

Lebenseinstellung. Heute denke ich jedoch, dass er<br />

wahrscheinlich wusste, dass das Leben immer weitergeht und<br />

jede Prophezeiung deswegen früher oder später wahr wird.<br />

Sogar mehrmals. Besonders deutlich wird das, wenn man seine<br />

damaligen Gedichte über Deutschland liest. Majakowski mochte<br />

das revolutionäre Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, er<br />

war mehrmals in Berlin und hat hier viel prophezeit:<br />

Im Taxi den Kudamm hinsausend<br />

reiße ich die Augen auf<br />

guck mal, Berlin<br />

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