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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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steht die nächste vor der Tür. Die Bewohner teilen sich in<br />

Dutzende von Karnevalsgesellschaften, sie singen und tanzen<br />

das ganze Jahr über auf der Straße und ziehen sich auch<br />

permanent närrisch an und um. Manche laufen sogar fast nackt<br />

durch die Gegend. Gleichzeitig ersetzt der Karneval das<br />

wirtschaftliche und politische Leben in der Stadt: Es gibt<br />

närrische Stadt- und Regionalverbände mit Präsidenten, ersten,<br />

zweiten und dritten Vorsitzenden. Es werden regelmäßig<br />

Karnevalsmessen durchgeführt und eine Unmenge<br />

karnevalistische Zeitungen und Zeitschriften herausgegeben.<br />

Die Karnevalsveteranen werden mit Verdienstorden aus Bronze<br />

und mit Geldprämien ausgezeichnet, und ihr Ableben wird<br />

öffentlich bedauert.<br />

Aber Berlin ist auch nicht so weit weg von Italien und an<br />

manchen Stellen näher an China und Brasilien. Es gibt hier<br />

ebenfalls einen Kölner Karneval und ein Oktoberfest, eine Love-<br />

und eine Fuck-Parade und dazu jeden Tag mindestens drei<br />

Demos irgendwo in der Stadt, auch wenn ich selbst noch nie auf<br />

einer war. Täglich gibt es in Berlin laut Programm circa vierzig<br />

Theateraufführungen, unzählige Rockkonzerte, und immer<br />

gastieren ein paar Zirkusse irgendwo in der Stadt, auch wenn ich<br />

nicht weiß, wo. Es gibt auch <strong>kein</strong>en Zwang, dort hinzugehen –<br />

das macht die Stadt für mich so attraktiv.<br />

Der muffige <strong>Berliner</strong>, für den es immer etwas zu meckern gab,<br />

ist zum großen Teil in den Westen abgehauen, wahrscheinlich<br />

auf der Suche nach einem gut bezahlten Arbeitsplatz. Alle, die<br />

einen Vogel haben, kamen dagegen nach Berlin. Aus ganz<br />

Deutschland kommen die Knaller hierher, um endlich so zu<br />

leben, wie sie es gern hätten, ohne dass jemand mit dem Finger<br />

auf sie zeigt. Dabei finden sie in Berlin ganz schnell<br />

Gleichgesinnte, eine Stammkneipe, einen eingetragenen Verein<br />

und eine spezielle Knaller-Zeitung noch dazu. Nur gehen sie<br />

dabei unter, weil sich <strong>kein</strong> Mensch mehr über sie aufregt. Die<br />

Studenten, die im Winter nackt auf die Straße gingen, um gegen<br />

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