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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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leiter zum Fotolabormitarbeiter ist es oft nur ein kleiner Schritt.<br />

Jeder Tag bringt eine Pleite und eine Neugründung auf unsere<br />

Straße. Nur meine vietnamesischen Nachbarn sind über Jahre<br />

hinaus ihrem nach der Wende angenommenen Beruf des<br />

Gemüsehändlers treu geblieben. Von früh bis spät sitzen sie mit<br />

ihren Kindern und Verwandten in ihrem Laden und spielen auf<br />

einem quadratmetergroßen Stück Karton die fernöstliche<br />

Variante des Kreuz-Nullen-Spiels, mit hunderten von Kreuzen<br />

und Nullen, die sich scheinbar willkürlich auf dem Papier<br />

ausbreiten. Dazu hören sie vietnamesische Volksmusik. Sie sind<br />

die vorbildlichsten Mittelständler, die ich überhaupt kenne, denn<br />

ihr Laden ist stark durch ihre Persönlichkeiten geprägt.<br />

Außerdem machen sie sich anscheinend <strong>kein</strong>e Sorgen wegen der<br />

begrenzten Wettbewerbsfähigkeit des Ladens. Ihre<br />

Beschäftigung scheint auf mehrere Jahre vorprogrammiert zu<br />

sein. Sie ernähren sich in den Pausen von dem Gemüse, das sie<br />

im Laden vorrätig haben, dann spielen sie weiter. Ein zufälliger<br />

Kunde wird niemals herausfinden, wer denn nun endlich<br />

gewonnen hat.<br />

Während ich diese Zeilen in einem mittelständischen <strong>Berliner</strong><br />

Café schreibe, versucht draußen ein musikalischer Kleinbetrieb,<br />

meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Direkt mir<br />

gegenüber vermarkten unter einer U-Bahn-Brücke fünf Musiker<br />

ihren Rock’n’Roll an das vorübergehende Publikum. Dieses<br />

Kleinkollektiv ist durch die Persönlichkeit seines Trompeters<br />

vielleicht sogar zu stark geprägt. Der Trompeter übertreibt es<br />

deutlich mit seiner Eigeninitiative und Risikobereitschaft, er<br />

bläst dermaßen schräge Töne, dass die Fußgänger vor lauter<br />

Angst zur Seite springen oder bei Rot über die Straße laufen.<br />

Die Arbeit in einem mittelständischen Betrieb ist ohne<br />

Rücksicht auf die Kollegen nicht denkbar. Bald wird es auch<br />

unter dieser U-Bahn-Brücke Entlassungen geben.<br />

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