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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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Verwandtschaft. Später mahnen sie: »Sollten Sie sich für mein<br />

Leben doch nicht interessieren, schicken Sie mir umgehend alle<br />

meine Dokumente zurück. <strong>Ich</strong> werde Sie dann nicht mehr<br />

belästigen.«<br />

Schön wäre es. Wir ziehen oft um. Beim letzten Umzug sind<br />

viele dieser zugeschickten Schicksale verloren gegangen, ein<br />

ganzer Pappkarton voll. Aus Westberlin schreiben mir die Leute<br />

gerne über ihre Eltern, die Nazis waren oder im Untergrund<br />

kämpften: Es gibt viele Liebesgeschichten mit politischem<br />

Hintergrund. Russische Soldaten vergewaltigen die Oma.<br />

Amerikanische Soldaten heiraten KZ-Häftlinge. Oder sie<br />

schreiben, wie sie Tunnel gruben, um ihre Brüder und<br />

Schwestern aus den Fängen der sozialistischen Diktatur zu<br />

befreien. Glaubt man diesen Lebensgeschichten, lebten im<br />

Westen vor allem Helden, im Osten dagegen die Opfer.<br />

Aus Ostberlin bekomme ich den blanken Wahnsinn: »<strong>Ich</strong> war<br />

ein Kämpfer für ein unabhängiges Deutschland ohne Folter. Die<br />

Schweine haben mich wegen meiner politischen Überzeugungen<br />

fünf Jahre in die DDR-Psychiatrie eingesperrt. Nach der<br />

Wiedervereinigung hat mich die BRD-Psychiatrie für weitere<br />

fünf Jahre übernommen. <strong>Ich</strong> habe sechs Attentate auf meine<br />

Person überlebt, vom KGB, BND und dem Roten Kreuz. Anbei<br />

mein Entlassungsschein auf Englisch und Deutsch. Das<br />

Wichtigste habe ich rot markiert.«<br />

<strong>Ich</strong> drücke mich davor, diese Briefe zu beantworten. Dieser<br />

Ansturm der Vergangenheit kann einem Angst machen. Wenn<br />

ich mir nur vorstelle, dass all die unveröffentlichten<br />

Weltbestseller irgendwo draußen frei herumlaufen. Dazu<br />

kommen dann noch die Geschichten der anderen, die ihre<br />

Vergangenheit gerade erst als Gegenwart erleben – sie hätten sie<br />

rein theoretisch auch mir schicken können. Was mache ich dann<br />

mit dem ganzen Kram?<br />

Andererseits kann ich die Absender gut verstehen. Die<br />

Vergangenheit ist eine Last. Sie drückt auf die Schultern.<br />

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