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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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ein Luoravetlane sei. Der Stammesälteste wollte seinen<br />

verdächtigten Landsmann jedoch nicht der Staatsgewalt<br />

übergeben und drohte dem Polizeichef mit der UNO-<br />

Kommission. Von dieser Drohung ließ sich die Miliz aber nicht<br />

beeindrucken. Sie beschloss, das Haus des Verdächtigen zu<br />

stürmen. Seitdem gibt es auf der ganzen Welt nur noch<br />

hundertdreiundneunzig Luoravetlanen.<br />

Nach diesem Drama beschlossen die Übriggebliebenen, sich<br />

von der Zivilisation erst einmal zurückzuziehen. Dazu tauschten<br />

sie mit der Lokalverwaltung ihr Gemeindeland gegen einen<br />

verlassenen Raketenschacht der sowjetischen Armee etwa<br />

zwanzig Kilometer vom Dorf entfernt. Dieser Schacht war<br />

schon immer ein Objekt ihrer Begierde gewesen. Die<br />

Atomraketen, die dort vis-a-vis von Alaska jahrzehntelang<br />

stationiert gewesen waren, damit die Sowjetunion Amerika auf<br />

dem kürzesten Weg erwischen konnte, wurden 1993 abgebaut.<br />

Eine gewisse Radioaktivität blieb jedoch erhalten. Deswegen<br />

war es im Schacht das ganze Jahr über angenehm warm und<br />

trocken. Man konnte dort sogar im Winter Kartoffeln und<br />

Gurken anpflanzen. Der Raketenschacht war ein riesiger<br />

unterirdischer Bunker mit vielen Wohnräumen – fast ein<br />

modernes Hochhaus, nur nach unten. Für die meisten<br />

Luoravetlanen war er ein lauschiges Plätzchen. Nur Anton gefiel<br />

es dort nicht. Er ist in Berlin ein Großstadtmensch geworden<br />

und bekam unter der Erde Platzangst. Außerdem sei es sehr<br />

langweilig dort, er habe die ganze Zeit immer nur Gardner<br />

gelesen, erzählte Anton.<br />

»Gardner? Earl Stanley Gardner? Den amerikanischen<br />

Krimiautor? Wie kam der denn in den Raketenschacht?«, fragte<br />

ich ihn ungläubig.<br />

Im Schacht standen noch jede Menge Müllcontainer aus den<br />

alten Zeiten herum, erzählte mir Anton. Sie wurden nun von<br />

seinen Leuten langsam umfunktioniert. Auf der Suche nach<br />

Lesbarem fand er dort eine ganze Auflage der Zeitung<br />

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