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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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legte sich halb Moskau eine Mireille-Mathieu-Frisur zu. Die<br />

Frisöre wurden dauernd mit der gemeinen Frage belästigt:<br />

»Kannst du überhaupt die Haare wie bei Mireille Mathieu<br />

schneiden?«<br />

Nach kurzer Zeit konnten alle Frisöre die von ihnen verlangte<br />

»Fasson« mit geschlossenen Augen auf jeden Kopf zaubern.<br />

Diese Frisur stieg schnell zum ersten Westprodukt auf, das für<br />

breite Schichten der Bevölkerung zugänglich war. Dazu kamen<br />

ungarische Stiefel und DDR-Jeans. Unter den Jugendlichen<br />

waren auch Plastiktüten aus dem Westen große Mode. Sie<br />

mussten aber unbedingt von einer Jeans-Firma sein, also mit<br />

einem knackigen Hintern drauf. Solche Tüten wurden nur auf<br />

dem schwarzen Markt verkauft. Damit sie länger hielten, stülpte<br />

man sie über eine ganz normale sowjetische Stofftasche. <strong>Ich</strong><br />

hatte demnach die beste Tüte in unserer Schule: mit Lee-<br />

Werbung und gleich zwei Hintern drauf.<br />

Die Isolation der Sowjetunion hatte aber auch ihre positiven<br />

Seiten: Die Bevölkerung hatte von den Modegurus der<br />

westlichen Welt wenig Ahnung und war also in Sachen Mode<br />

und Stil auf sich selbst angewiesen. Das erforderte große<br />

Phantasie und handwerkliches Geschick. Jede Frau war eine<br />

Näherin der Extraklasse. Niemand kaufte die sowjetischen<br />

Fertigprodukte, alles wurde zu Hause nach den eigenen<br />

Vorstellungen von Mode und Schick geschneidert. Zum Glück<br />

gab es genug Rohstoffe in der Sowjetunion – chinesische<br />

Baumwolle, Fallschirmseide, Leinen. Außerdem strickte man<br />

wie verrückt. In vielen Haushalten lebten große Hunde, die von<br />

ihren Besitzern regelmäßig gekämmt wurden und deren Wolle<br />

anschließend handversponnen wurde. Meine Nachbarin hatte<br />

sich aus ihren zwei Neufundländerrüden einen dermaßen<br />

schicken Wintermantel angefertigt, dass unser ganzes Haus vor<br />

Neid erblasste. Strickmagazine waren unglaublich begehrt und<br />

schwer aufzutreiben. Sie hatten oft so lustige Überschriften wie<br />

»Stricken Sie sich Ihren Mann zurecht«.<br />

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