3. Die spezifischen Voraussetzungen und ihre Anforderungen.727°. FUNKTIONALE VORAUSSETZUNGEN UND ANFORDERUNGEN. Die Bestimmungder hierarchischen Organisationen, die die organisatorischen Machtapparateausmachen, und welche als Grundlage für die untersuchte Form mittelbarer Täterschaftdienen, erfordert außerdem die Feststellung des Bestehens der vom deutschenBundesgerichtshof sogenannten „Rahmenbedingungen“ 1080 , d.h. der funktionalenVoraussetzungen und Anforderungen. Dabei handelt es sich um folgende:1) die Befehlsgewalt; 2) die Loslösung der Organisation von der Rechtsordnung; 3)die Austauschbarkeit des unmittelbaren Täters; und 4) die erhöhte Tatgeneigtheitdes Vollstreckers.Diese Rahmenbedingungen müssen gemeinsam untersucht werden. Allerdingshandelt es sich nicht um eine arithmetische Summierung, um als Ergebnis dieOrganisationsherrschaft zu erhalten. Vielmehr muss eine Einschätzung von Fall zuFall erfolgen, um auf diese Weise einen unvollständigen, schiefen oder verfälschtenEindruck der Struktur und der Funktionsweise der Organisation zu verhindern.728°. EBENEN. Um eine geeignete und nützliche Analyse dieser Rahmenbedingungenzu erreichen, können wir sie auf zwei Ebenen untersuchen.(A) Die eine, mit objektivem Charakter, die i) die Befehlsgewalt und ii) die Loslösungdes Machtapparats von der Rechtsordnung umfasst. Die erste Anforderung isttranszendental für die Verwirklichung der Organisationsherrschaft, die zweite gibtder Herrschaft eine größere Solidität. Deshalb ist es angebracht, beide Anforderungenals Grundpfeiler zu betrachten, die es der obersten strategischen Ebene (demmittelbaren Täter) erlauben, ihre Herrschaft über die gesamte kriminelle Struktur zubegründen und zu konsolidieren.(B) Die andere, mit subjektiven Charakter, in der i) die Fungibilität des direkten Vollstreckersund ii) die erhöhte Tatgeneigtheit zu verorten sind. Diese zwei subjektivenAnforderungen sind Folge des Automatismus und haben ihren Ursprung darin, wasROXIN den „Schalthebel der Macht“ („palanca de poder“) 1081 genannt hat. Dies istAmbos/Grammer, hier wird aus der dt. Originalfassung zitiert: Tatherrschaft qua Organisation. Die Verantwortlichkeitder argentinischen Militärführung für den Tod von Elisabeth Käsemann, in: T. Vormbaum(Hrsg.), Jahrbuch Juristische Zeitgeschichte Band 4 (2002/2003), 2003, S. 529-553 (546)].1080 Siehe diesbezüglich: MEINI MÉNDEZ, IVÁN: El dominio de la organización en Derecho Penal, obenzitiert, Seite 25. PARIONA ARANA, RAÚL: La doctrina de la “disposición al hecho”. ¿Fundamento de laautoría mediata en virtud de dominio por organización? In: JUS Doctrina & Práctica, Verlag Grijley,Lima, 2008, Seite 44 [Fußnote 32]. ROXIN, CLAUS: El Dominio de organización como formaindependiente de autoría mediata, In: REJ, Revista de Estudios de la Justicia. Nummer 7 – Jahr 2006,Seiten 15-20. AMBOS, KAI: Dominio por organización. Estado de la discusión, In: AA.VV.: Dogmáticaactual de la autoría y la participación criminal”, Verlag IDEMSA, Lima, 2007, Seiten 82-83. Dieser Artikelist ebenfalls veröffentlicht in Revista Derecho Penal Contemporáneo, Legis, Bogotá, 2007. Seite 28.1081 ROXIN, CLAUS: Sobre la Autoría y participación en el Derecho Penal, 1970, oben zitiert, Seite 63[Anm. d. Übers.: Nach Auskunft von Prof. Roxin, email v. 13.6.2009, wurde das deutsche Original diesesBeitrags nie veröffentlicht. „Palanca de poder“ bedeutet wörtlich „Machthebel“, Roxin selbst schlägt_____________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com633
entscheidend, da es den Schluss zulässt, dass die Handlung des direkten Vollstreckersletztendlich von seinem eigenen Willen zur Tatbegehung abhängt. Andererseitsführt die Nichtausführung der Straftat durch diesen zu seiner Fungibilität oderErsetzung durch eine andere Zwischenperson, die eine höhere Bereitschaft zur Tatverwirklichungbesitzt. 4. Die objektiven Voraussetzungen und Anforderungen* 4.1. Die Befehlsgewalt729° KONZEPT. Wie gezeigt, handelt es sich bei der Befehlsgewalt um eine Grundvoraussetzungder Zurechnung der mittelbaren Täterschaft im Rahmen eines organisatorischenMachtapparats.Die Befehlsgewalt ist die Fähigkeit der obersten strategischen Ebene – desHintermanns –, dem ihr untergeordneten Teil des Machtapparats Befehle zu gebenoder Aufgaben zuzuweisen. Diese Fähigkeit wird erworben oder übertragen, aufgrundeiner Stellung der Autorität, Führung oder Abstammung, abgeleitet von politischen,ideologischen, sozialen, religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen oder ähnlichenFaktoren.Die Befehlsgewalt des mittelbaren Täters manifestiert sich mittels ausdrücklicheroder stillschweigender Erteilung von Befehlen, die aufgrund des automatischenCharakters, verliehen durch die funktionale Verfassung des Apparats, ausgeführtwerden. Das bedeutet, dass es nicht notwendig ist, dass derjenige, der denBefehl erteilt, zusätzlich oder alternativ auf die Nötigung oder die Täuschung dermöglichen Vollstrecker zurückgreift. Vor allem weil, wie später gezeigt werden wird,der direkte Vollstrecker die strafbaren Absichten, die die Organisation verfolgt, teiltund die Bereitschaft zur Befehlsausführung hat, wie sich in der Tatverwirklichungzeigt. Das bedeutet, dass die Willensherrschaft, die der mittelbare Täter als Inhaberder Befehlsgewalt besitzt und ausübt, diesem aufgrund der Eingliederung der Zwischenpersonoder des direkten Vollstreckers in den organisatorischen Machtapparatzuteil wird.730°. FORMEN DER BEFEHLSGEWALT. In diesem Zusammenhang ist zwischen der Befehlsgewaltauf höchster Ebene und der auf mittlerer Ebene zu unterscheiden. Es istalso wichtig, zwischen zwei Formen der Befehlsgewalt zu unterscheiden. Zum einenverläuft sie von der strategischen zu der mittleren taktischen oder operativen Ebene.Und zum anderen von den mittleren Ebenen zu den physischen Vollstreckern. Inbeiden Fällen zeigt sich die Befehlsgewalt immer in vertikaler Linie. Dieser Umstandist entscheidend für die Zuschreibung mittelbarer Täterschaft für alle Befehlshaber inder Kette des Machtapparats, denn man kann die Form und Reichweite, in der dieoberste strategische Ebene Entscheidungen trifft oder weitergibt, nicht mit denendie hier verwendete Übersetzung vor; ähnlich ders., GA 1963, 193, 200: „an einer Schaltstelle des Organisationsgefügessitzende[r] Hintermann“]._____________________________________________________________________________________634<strong>ZIS</strong> 11/2009