Hassrede/ Hate Speech - Allgemeine Linguistik
Hassrede/ Hate Speech - Allgemeine Linguistik
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98 Burkhard Meyer-Sickendiek<br />
1. <strong>Hate</strong> speech oder excitable speech? Fallbeispiele aus der<br />
Literatur<br />
Wenn man sich als Literaturwissenschaftler zum Phänomen der verletzenden<br />
Rede äußert, dann liegt dies an der Tatsache, dass dieses Phänomen auch und<br />
gerade in literarischen Texten ein zentrales Motiv darstellt (Herrmann et al<br />
2007; Krämer/Koch 2010). Und doch wäre es verfehlt zu behaupten, ein<br />
literarischer Text, der von beißender Ironie, verletzendem Spott, personalsatirischer<br />
Polemik, ätzender Satire oder gar diskriminierender Rhetorik zeugt,<br />
sei ein Produkt der hate speech. Dieser Einwand ergibt sich vor dem Hintergrund<br />
jener wohl passenderen Kategorie zur Beurteilung verletzender Texte:<br />
Der von Judith Butler geprägten Kategorie der excitable speech. Warum?<br />
Weil man zumindest als Literaturwissenschaftler ein ausgesprochen hohes<br />
Bewusstsein vom Zitatcharakter literarischer Texte besitzt: Eben dieser Zitatcharakter<br />
ist jedoch nur dem Butlerschen Begriff der excitable speech,<br />
nicht aber dem von Matsuda, Gates oder Delgado geprägten Begriff der hate<br />
speech eigen. Des Weiteren ist die politisch korrekte Perspektive, wie sie bei<br />
Matsuda, Gates oder Delgado vorliegt, weniger passend zur Beurteilung<br />
literarischer Texte denn eben jene, welche Butler prägte. Denn es mag<br />
schnell einleuchten, dass eine Zensur rassistischer Gruppierungen oder sexistischer<br />
Filmemacher unterstützenswert ist. Aber wie ist dies in jenen Fällen,<br />
in denen etwa Farbige selbst sich rassistischer Klischees bedienen – Butlers<br />
Beispiel Rap Musik –, oder Homosexuelle selbst jene Schimpfworte verwenden,<br />
die nach gängiger Vorstellung politisch unkorrekt sind. Wo hört der<br />
Minderheitenschutz auf, wo fängt die Zensur an, und was geschieht, wenn<br />
die Minderheit selbst mit jenen Klischees spielt, gegen welche man sie eigentlich<br />
schützen sollte? Wofür ich im Folgenden plädieren möchte, das ist<br />
eine sehr genaue Unterscheidung zwischen hate speech und excitable speech,<br />
d. h. zwischen der verletzenden Rede als einem Prinzip der Diskriminierung<br />
und der verletzenden Rede als einem Prinzip der zitierten, d. h. spielerischen<br />
Diskriminierung. Warum dies wichtig ist, mag der folgende Überblick verdeutlichen.<br />
Er bezieht sich auf die in Rezensionen, Essays und Literaturgeschichten<br />
ausgesprochen häufig zu findenden Gleichsetzung von jüdischer<br />
Intelligenz und sarkastischer Ironie: Ein äußerst komplexes Themengebiet,<br />
an dem man sich leicht die Finger verbrennt.<br />
Ich zitiere zunächst eine Reihe von Beispielen, um die von mir angedeutete<br />
Problematik zu verdeutlichen. In diesen geht es jeweils um eine relativ<br />
unreflektierte Identifikation von jüdischer Intelligenz und sarkastischer Ironie:<br />
„Unbändig, sarkastisch und provokativ“, so schrieb etwa Frank Hellberg,<br />
„attackierte [Walter Mehring] in Berlin das Bürgertum mit seinen Werten<br />
und Idealen; die Verhöhnung traf direkt und abrupt – geschossartig.“ (Hell-