Hassrede/ Hate Speech - Allgemeine Linguistik
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204 Nora Sties<br />
5. Das Spannungsfeld von gesellschaftlichem Wandel und<br />
Sprachpolitik<br />
Wie oben bereits angerissen, ist BEHINDERUNG ein relativ modernes Konzept:<br />
Der Begriff Behinderte stammt aus den frühen Jahren der Weimarer<br />
Republik. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Bedeutungszuweisung<br />
einer PGB ein dynamischer, sich entwickelnder Prozess ist, der starken metasprachlichen,<br />
gesellschaftlichen und normativen Einflüssen unterliegt.<br />
Sprachliche Muster zur Bezeichnung von Behinderten sind<br />
Resultat eines komplexen und konfliktgeladenen Interaktionsprozesses, an<br />
dem eine Vielzahl von Akteuren mit ganz unterschiedlichen, häufig sogar gegenläufigen<br />
Interessen und Motiven<br />
mitwirken (Schmuhl 2010, 7) – zum Teil handeln die Sprecher dabei bewusst<br />
und mit klarer Zielsetzung. Es eröffnet sich ein Spannungsfeld zwischen<br />
Normen-, Bedeutungs-, Bezeichnungswandel und Sprachpolitik. Dabei sind<br />
zwei parallele Prozesse zu beobachten: Der an ein Lexem gebundene Bedeutungswandel<br />
und die Substitution von Bezeichnungen.<br />
Bis in die Neuzeit hinein wurde die heutige Gruppe der behinderten Menschen<br />
nicht als einheitliche Kategorie wahrgenommen, folglich gab es keine<br />
Bezeichnung, die alle Menschen, die heute als behindert bezeichnet werden,<br />
eingeschlossen hätte. Stattdessen gab es Bezeichnungen für spezifische Beeinträchtigungsformen,<br />
die laut Schmuhl (2010, 11) größtenteils pejorativ<br />
konnotiert waren: Für Körperbehinderte (Krüppel, Lahme, Invalide, Gebrechliche),<br />
für Menschen mit geistiger oder Lernbehinderung (Blöde, Idioten,<br />
Schwachsinnige), für Menschen mit psychischer Erkrankung (Irre, Geisteskranke,<br />
Gemütskranke) etc. Die jeweilige Begriffsgeschichte kann und<br />
soll an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden.<br />
Näher eingegangen werden soll auf die Bezeichnungen für körperbehinderte<br />
Menschen. Nach Schmuhl (ebd., 12) waren seit der Aufklärung die<br />
Bezeichnungen Gebrechlicher und Invalider gebräuchlich. Nebenher existierte<br />
die Bezeichnung Krüppel, die sich aus mhd. crupel ableitet. Sie wurde<br />
als Adjektiv für etwas Verwachsenes, Ungeformtes, Missgebildetes verwendet<br />
und bildete zahlreiche Komposita. Übertragen auf Menschen sei die Bezeichnung<br />
„extrem negativ besetzt und wurde mit Armut, Not und Elend<br />
assoziiert“ (ebd., 13). Sie galt als umgangssprachlicher und beleidigender<br />
Begriff. Um die Jahrhundertwende des 19. zum 20. Jahrhundert wurde die<br />
Bezeichnung von der Inneren Mission, der sich neu gründenden evangelischen<br />
Körperbehindertenfürsorge, bewusst zur Bezeichnung ihrer Zielgruppe<br />
aufgegriffen. Bis dorthin wurden Körperbehinderte fernab staatlicher und<br />
gesellschaftlicher Fürsorge hauptsächlich in mitten ihrer Familien versorgt.