Hassrede/ Hate Speech - Allgemeine Linguistik
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Diskursive Produktion von Behinderungen 207<br />
kussion beteiligten Parteien die alten Begriffe unangemessen, um ein modernes,<br />
wertfreies Konzept von Behinderung zu beschreiben. Es wird beklagt,<br />
dass das deadjektivische Substantiv diskriminierenden Gehalt hätte und zur<br />
Extra-Visibilität eines persönlichen Merkmals führen würde. Als politisch<br />
korrekt werden daher nichtdiskriminierende Mehrwortbenennungen empfunden,<br />
bestehend aus einer unspezifischen Personenbezeichnung als Kern und<br />
der attributiven Eigenschaft, wie z. B. behinderter Mensch. Hinsichtlich dieses<br />
Prinzips werden wiederum diejenigen Begriffe bevorzugt, bei denen das<br />
Attribut syntaktisch nachgestellt wird, wie bei Mensch mit Behinderung.<br />
Dies soll die Aufmerksamkeit von der Behinderung auf die Person lenken. 5<br />
Linguistisch gesehen gibt es für die Nachstellung keine ausreichende Begründung<br />
und eine positivere Konnotierung ließ sich per Umfrage weder<br />
unter den behinderten noch den nichtbehinderten Sprechern nachweisen<br />
(Sties 2009).<br />
Zeitgleich kam es in den letzten beiden Jahrzehnten zum sogenannten Paradigmenwechsel<br />
in der medizinischen, pädagogischen und rechtlichen Fachsprache:<br />
Das medizinisch-defizitäre Modell, das Behinderung als „Minus-<br />
Variante des Normalen“ sieht (Stadler 1998, 53), wurde durch das soziale<br />
Modell der Behinderung abgelöst. Zwischen einer körperlichen Schädigung<br />
(‚impairment‘) und der Behinderung (‚disability‘) gibt es demnach zwar ein<br />
Grund-Folge-Verhältnis, aber keine Kausalität. Nicht die körperliche Abweichung<br />
allein sei die Ursache der Behinderung, sondern bauliche, soziale<br />
und strukturelle Barrieren führen zu einer Benachteiligung, welche die Behinderung<br />
ausmache (vgl. Waldschmidt 2006, 3). Behinderung wird damit<br />
zum relativen Begriff, der erst bei einer tatsächlichen Beeinträchtigung bei<br />
der Teilhabe Bedeutung erlangt. So ist der sprachbehinderte Schwimmer im<br />
Wettbewerb unbehindert, im Bewerbungsgespräch unabhängig von seiner<br />
Eignung für den Arbeitsplatz jedoch massiv benachteiligt.<br />
Dieser gleichzeitige Wandel von kultureller Wahrnehmung und Bedeutung<br />
zeigt sich bei der veränderten Definition des Begriffes Behinderung<br />
selbst: Das Wörterbuch der deutschen Sprache bedient sich zur Bedeutungserläuterung<br />
für das Adjektiv behindert noch des folgenden medizinischdefizitären<br />
Modells: „infolge einer körperlichen, geistigen od. seelischen<br />
Schädigung beeinträchtigt“ (Dudenredaktion 1999, 500). Als distinktive<br />
Merkmale lassen sich [+geschädigt] und [+beeinträchtigt] ermitteln. Die<br />
WHO bedient sich bereits des sozialen Modells von Behinderung und fügt<br />
ihrer Definition von Behinderung eine weitere Komponente hinzu: die der<br />
5<br />
Stellungnahme des Beauftragten für Menschen mit Behinderung der Bundesregierung<br />
auf Anfrage in Briefform vom 01.02.2009.