2. Ma'at und Logos. - Vergleichende - Dittmer, Jörg
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Gedanken <strong>und</strong> nicht ritualistisch auf das Weitertun des Überlieferten verengt oder auf die<br />
Erfüllung einer Norm begrenzt. Die entscheidenden Gerichtsszenen verlagern sich sozusagen für<br />
die Griechen vom einmaligen Akt der Herzensprüfung im “Jenseits” in die Wirklichkeit<br />
menschlicher Gerichte <strong>und</strong> Rechtsprechung, über die Zeus wacht. 84<br />
Betrachtet man die archaische Lyrik vor diesem Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> im Vergleich mit Homer,<br />
versteht man ihre Eigenart besser <strong>und</strong> entdeckt neben einigen Gemeinsamkeiten wesentliche<br />
Unterschiede, die den weiteren Umbruch im Denken <strong>und</strong> einen Aufbruch zu neuen Ufern<br />
markieren. Sprache <strong>und</strong> Metrik sind zwar weithin von Homer <strong>und</strong> älteren, volksliedartigen<br />
Dichtungen beeinflusst, <strong>und</strong> auch das sich in der frühen Lyrik aussprechende<br />
Individualitätsverständnis bleibt zunächst noch in hohem Maße offen für das Einwirken göttlicher<br />
Mächte von außen. Das entscheidend Neue liegt darin, da· die eigenen Kräfte <strong>und</strong> Empfindungen<br />
nunmehr als persönliche im Sinne des von anderen Unterscheidenden <strong>und</strong> dadurch<br />
Auszeichnenden Bewusst geworden sind. Analog zu dem gesellschaftlichen Aufbruch, der den<br />
einzelnen aus seiner weitgehenden sozialen Geb<strong>und</strong>enheit entließ, emanzipiert sich der Mensch<br />
im Geistigen <strong>und</strong> erfasst sich selbst als etwas Besonderes, das durch diese Besonderheit von<br />
anderen getrennt <strong>und</strong> dadurch zum Einzelnen wird. Diese Erfahrung vermittelt sich ihm zunächst<br />
überwiegend im Leiden bzw. im Erleben (paqei+n). “Eine der dramatischsten Wendungen in der<br />
Geschichte des griechischen Geistes” 85 , ja in der Geschichte der okzidentalen Referenzstruktur ist<br />
damit eingeleitet.<br />
Es ist unmittelbar evident, da· das Epos zu feierlich, zu umständlich, distanziert <strong>und</strong> unpersönlich<br />
war, um adaequater Ausdruck der neuen Bewusstseinsstufe sein zu können. Die Lyrik, die der<br />
unmittelbaren Selbstaussprache bzw. der direkten Ansprache an ein Gegenüber dient (ohne das<br />
“Medium” Dichter zwischen Muse <strong>und</strong> Hörer), tritt daher mit innerer Notwendigkeit als<br />
literarisches Genos der neuen Zeit an seine Seite <strong>und</strong> verhilft zugleich dem Dichter <strong>und</strong> seinen<br />
Lesern durch die Artikulation <strong>und</strong> Weitergabe der neuen Erfahrungen zu größerer Klarheit auf<br />
dem eingeschlagenen Weg. Zum ersten Mal (nach dem Vorgang Hesiods) nennen in dieser Zeit<br />
die Dichter - aber schon bald auch die Töpfer <strong>und</strong> Maler! - ihren Namen <strong>und</strong> sprechen von sich.<br />
Damit erschließt sich eine ganze Skala von seelischen Eigenschaften neu. Besonders die<br />
extremen Gefühle wie Archilochos’ Todesangst <strong>und</strong> Ha· oder Sapphos “bittersüße Liebe” werden<br />
nunmehr schmerzhaft in der eigenen Seele erfahren, wodurch sich das Seelische erstmalig als im<br />
84 Vgl. dazu auch J. Assmann 1992, 61: “In Ägypten wird Leistung gemessen an der Erfüllung sozialer Normen, in<br />
Griechenland an der kompetitiven Überbietung. Hier sind solche Taten erinnerungswürdig, die gerade nicht das<br />
bloße Maß, sondern nur das Übermaß menschlichen Könnens bezeugen: Pindar hat die Sieger in den panhellenischen<br />
Spielen in Oden verewigt, die Gründer von Kolonien lebten in Heroenkulten fort.”<br />
85 Fränkel 3 1976, 5.