2. Ma'at und Logos. - Vergleichende - Dittmer, Jörg
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Freude an Aufzählungen, handfeste Dinglichkeit <strong>und</strong> absolute Gegenwärtigkeit kennzeichnen<br />
diesen neuen Hang zu Sachlichkeit <strong>und</strong> Realismus. Von f<strong>und</strong>amentaler Bedeutung für die weitere<br />
Entwicklung ist jedoch schließlich die Tatsache, da· der Einzelne, indem er zum Ich wird, nicht<br />
nur der Welt, sondern auch der Gemeinschaft gegenübertritt. Im Zusammenhang mit der oben<br />
skizzierten sozioökonomischen Entwicklung rückt damit - etwa bei den Sprüchen der sieben<br />
Weisen - das Bedürfnis in den Vordergr<strong>und</strong>, das soziale <strong>und</strong> politische Leben zu verstehen <strong>und</strong><br />
zu regeln: Archilochos zeigt ein starkes Gefühl für Fragen der Gerechtigkeit, Tyrtaios <strong>und</strong><br />
Kallinos (s. o.) sind Zeugen eines neuen Verantwortungsdenkens im Bereich des Politischen. Die<br />
entscheidende Leistung verdanken wir aber Solon, der als Dichter <strong>und</strong> Staatsmann des<br />
Ausgleichs seine Überzeugung von der Verantwortung des Menschen (das auätoi` aiötioi in der<br />
Eunomia-Elegie!), seine Maxime des rechten Maßes <strong>und</strong> seine Lehre von der immanent im<br />
WeltProzess wirkenden ausgleichenden Gerechtigkeit in einer Person literarisch formulierte <strong>und</strong><br />
praktisch demonstrierte.<br />
Schon bald, in der zweiten Hälfte des 6. Jahrh<strong>und</strong>erts, entwickelt sich aus diesem furiosen Beginn<br />
das formvollendete, virtuose, z. T. ironische literarische Spiel bei Anakreon (am Hofe der<br />
Tyrannen), zeigen die Verse des Theognis-Corpus die Verarbeitung des bisher Gedachten aus der<br />
eher resignativen Sicht des Adels, der seine beherrschende Stellung verliert, zeigt sich eine neue,<br />
reichere <strong>und</strong> schärfere Form der Reflektion in den Gedichten des Simonides mit ihrer im ganzen<br />
positiv-optimistischen Gr<strong>und</strong>stimmung, steigert die Chorlyrik bei Pindar oder Bakchylides die<br />
gewonnenen Ausdrucksmöglichkeiten ins Komplex-Artifizielle. Die Eigenart lyrischen<br />
Sprechens 87 tritt trotz aller verschiedenen Formen <strong>und</strong> Gestaltungen im Vergleich mit dem Epos<br />
deutlich hervor: an die Stelle der breit dahinfließenden Erzählung tritt die persönliche, gedrängte,<br />
oft reflektierende oder argumentierende Aussage; an die Stelle des “wie”-Vergleichs der<br />
homerischen Gleichnisse das abstraktere metaphorische Sprechen, das ganz neue geistige Bezirke<br />
aufschließt; an die Stelle der mythischen Rede die exemplarische Verwendung des Mythos. Und<br />
dieser Mythos liegt eben nicht in kanonisierter Form fest, sondern bietet sich in einer noch<br />
weitgehend mündlichen Gesellschaft an als gemeinsames Substrat jener “Arbeit am Mythos” (um<br />
es mit einem Wort Hans Blumenbergs zu sagen), die dem Dichter in offener Auseinandersetzung<br />
<strong>und</strong> auf den Spuren Hesiods die Bewusste Korrektur älterer Vorstellungen gestattet <strong>und</strong> eben<br />
dadurch zum prägenden Ausdruck seiner besonderen Individualität wird. Der daraus resultierende<br />
Gewinn an Freiheit <strong>und</strong> Aussagemöglichkeit zeigt sich im Bereich der Plastik auch in der<br />
gleichzeitigen Entwicklung der männlichen archaischen kou+roi <strong>und</strong> weiblichen Koren, deren<br />
anfängliche Stilisierung immer mehr dem Ausdruck des Natürlichen, von keiner Konvention <strong>und</strong><br />
keinem Ritual Eingeschränkten Platz macht; oder wenn z. B. in der Vasenmalerei die allmähliche<br />
87 Lyrik wird hier im weiteren Sinne verstanden <strong>und</strong> schließt Elegie <strong>und</strong> Jambus mit ein.