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2. Ma'at und Logos. - Vergleichende - Dittmer, Jörg

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40<br />

Individualitätsverständnis mit einem gewissen Recht sagen dürfen, dass wir es im Griechenland<br />

des 5. Jahrh<strong>und</strong>erts zum ersten Mal mit autonomen Individuen zu tun haben, <strong>und</strong> zwar in dem<br />

Sinne, dass sie durch Reflexion <strong>und</strong> freien Gedankenaustausch erstmalig die Möglichkeit <strong>und</strong><br />

auch die Aufgabe sahen, die Wirklichkeit ihres Lebens in weitgehender Freiheit selbst zu<br />

gestalten.<br />

Im Zusammenhang mit diesem neuartigen, autonomen Individualitätsverständnis ergibt sich<br />

andererseits die Notwendigkeit neuartiger Formen der Identitätssicherung. Aus den früheren<br />

Bindungen freigesetzt, muss der Einzelne immer mehr Anteile seines Lebens selbst in die Hand<br />

nehmen; immer weniger ist selbstverständlich, durch Tradition oder Ritus festgelegt. Damit ruft<br />

diese Situation zugleich eine permanente Belastung <strong>und</strong> Bedrohung hervor, die auf dem<br />

möglichen Scheitern des Identitätsfindungsprozesses beruht <strong>und</strong> im real gewordenen<br />

Identitätsverlust in die Krise führen kann. Das autonome Individualitätsverständnis der Griechen<br />

sieht sich damit zwar nicht mehr als verantwortlich an für die Inganghaltung der Welt, die rituell<br />

stabilisiert werden muss, aber es weiß sich verantwortlich für die Gestaltung des eigenen Lebens,<br />

das sich der Dialektik <strong>und</strong> stets neuen Vermittlung von Tradition <strong>und</strong> notwendiger Veränderung<br />

stellen muss <strong>und</strong> gerade deshalb von Scheitern <strong>und</strong> Tragik bedroht ist. Wohl nicht zufällig wird<br />

gerade die Gestalt des Sokrates, in der die zum Projekt der eäpime´leia yuxh+Ó führende<br />

“Umwertung der Werte” (nämlich die Höherbewertung des geistigseelischen, inneren Bereichs<br />

gegenüber dem Körperlich-Äußerlichen) ihren vorläufigen Abschluss erreicht, nach Ansicht der<br />

Archäologen auch zum Wendepunkt in der Plastik, hat “sich an der Person des Sokrates auch die<br />

Kunst des individuellen Porträts ... entzündet.” 88 Die von Sokrates <strong>und</strong> Platon nachhaltig<br />

begründete sittliche Autarkie des autonomen Individuums blieb im Rahmen der antiken Welt<br />

unangefochtener Maßstab gerade auch dann, als das Individuum in der weiteren Entwicklung<br />

(nicht nur politisch) immer öfter in Gegensatz zum Gemeinwesen geriet <strong>und</strong> nicht mehr, wie es<br />

im Athen des 5. Jahrh<strong>und</strong>erts noch die Regel war, seine besonderen Kräfte in den Dienst des<br />

Gemeinwesens stellte: “In der Begründung der sittlichen Autonomie ... liegt der eigentliche<br />

Ertrag dieser Periode der Emanzipation des Einzelnen.” 89<br />

Doch damit nicht genug. Denn bereits während des Entwicklungsganges, der zur Begründung der<br />

sittlichen Autonomie des Individuums um 400 führt, bringen die für den SuchProzess der<br />

Selbstbestimmung freiwerdenden Individuen in der Aussprache ihrer Suchbewegungen ganz neue<br />

kommunikative Strukturen hervor; sie entwickeln neue Möglichkeiten der sichernden Verortung<br />

in der Geschichte; <strong>und</strong> sie konstituieren durch Reflektion auf die bestmögliche Gestaltung ihrer<br />

88 Dihle 2 1970, 20.<br />

89<br />

Ebd. 39. Lesenswert der ganze Abschnitt über “Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft in der Zeit um 400”, ebd. 35 ff.

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