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2. Ma'at und Logos. - Vergleichende - Dittmer, Jörg

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durchdachter Rede, der Facettenreichtum der Bewertungen: all das regte die Athener Bürger zu<br />

differenzierterer Betrachtungsweise auch in ihrem eigenen Leben an, schulte in einer Art<br />

mentalem Training ihre Urteilsbildung.<br />

Wenn man daher die aristotelische Katharsis-Lehre 220 so deutet, dass die Wirkung der Tragödie<br />

darin bestehe, “durch Bewusste Steigerung <strong>und</strong> Übersteigerung der Affekte auf der Ebene der<br />

ästhetischen Distanz über den Identifikations-Effekt eine lustvolle Entladung dieser Affekte zu<br />

erzielen <strong>und</strong> damit - nach Überwindung der affektbedingten ‘Sichttrübung’ - eine als lustvoll<br />

empf<strong>und</strong>ene höhere Stufe rationaler Problemreflexion zu ermöglichen” 221 , kann man nicht<br />

umhin, diese “reinigende” Kraft der Tragödie weniger als individual- denn als<br />

sozialpsychologisches <strong>und</strong> politisches Phänomen zu verstehen. Neben der seit langer Zeit<br />

akzeptierten medizinisch-physiologischen Katharsis-Deutung von Schadewaldt mit ihrer<br />

Interpretation von fo´boÓ <strong>und</strong> eöleoÓ als Schrecken <strong>und</strong> Jammer (über das Schicksal des<br />

tragischen Heros) hat denn jetzt auch Kerkhecker 222 erneut Lessings Interpretation der Begriffe<br />

als “Furcht <strong>und</strong> Mitleid” zu ihrem Recht verholfen. Gerade die sogenannten<br />

“Zuschauerszenen” 223 in der Tragödie machen das sinnfällig: in ihnen “erwächst die Furcht um<br />

das eigene Wohlergehen aus dem Mitleid mit dem anderen, dem man sich verb<strong>und</strong>en fühlt. ... An<br />

der exponierten Gestalt des ‘tragischen Helden’ werden ... wie unter einem Vergrößerungsglas<br />

bestimmte menschliche Verhaltensweisen <strong>und</strong> Verfehlungen samt ihren extremen <strong>und</strong><br />

katastrophalen Folgen deutlich. In diesem Bereich des Handelns besteht eine oÄmoio´thÓ 224 von<br />

Heros <strong>und</strong> Zuschauer; hierin kann man sich erkennen <strong>und</strong> beginnen, über sich selbst<br />

nachzudenken” 225 , sie ermöglicht “jenes Miterleben, das den ‘Homo ludens’ im Zuschauerraum<br />

220 Die berühmte Tragödiendefinition steht in der Poetik, 1449 b. Vgl. die Ausführungen von Fuhrmann 1986, 161 ff.<br />

221 Latacz 1993, 66.<br />

222 Kerkhecker 1990. Kerkhecker geht von Friedrich 1967 <strong>und</strong> seiner Kritik an Schadewaldt aus <strong>und</strong> entwickelt sie<br />

weiter. Im Zuge der versuchten Rehabilitation Lessings äußert Kerkhecker die Vermutung, dass “die Lehre von der<br />

Identifikation des Zuschauers mit dem tragischen Helden” sich als Relikt romantischer Literaturtheorie <strong>und</strong> “als<br />

Anachronismus moderner Aristotelesforschung entpuppen” könnte. (Kerkhecker 294)<br />

223 Der Begriff stammt von Friedrich 1967, 198, der 188 ff. z. B. auf Soph. Trach.293-313, Aias 118-133, Phil. 500-<br />

506 verweist <strong>und</strong> 194 den Publikumsbezug thematisiert. In den Zuschauerszenen “äußert eine dramatis persona ihr<br />

Mitleid mit einem oder mehreren vom Unglück Geschlagenen, erkennt ihre eigene Bedrohtheit <strong>und</strong> fürchtet für das<br />

eigene Wohlergehen.” Der Chor spielt <strong>und</strong> tanzt nicht nur räumlich zwischen den Protagonisten <strong>und</strong> dem Publikum,<br />

sondern fordert es durch seine Reflexionen über das Geschehen in besonderer Weise heraus, dient der “Erschließung<br />

seiner Empfangsbereitschaft für eine kathartische Lebenswirkung.” (Kindermann 1979, 67; vgl. auch 74 f.) Mann<br />

1979, 383 nennt ihn die “spiralige Verlängerung des Zuschauerr<strong>und</strong>s in die Orchestra hinein.”<br />

224 Die oÖmoion-Struktur zwischen dem Publikum <strong>und</strong> den dargestellten Personen ist die Voraussetzung für das Sich-<br />

Wiedererkennen im Fremden, weshalb Aristoteles besonderen Wert auf sie legt: neben Po. c. 13 auch in der Rhetorik<br />

II 5,15 (1383 a 8-12) <strong>und</strong> II 8,13 (1386 a 24-26). “Die elementare Freude an einem Kunstwerk beruht auf einem Akt<br />

des Wiedererkennens.” (Kerkhecker 1979, 299 mit Hinweis auf Ar. Po. 1448 b 15-19).<br />

225 Kerkhecker 1979, 296. Latacz 1993, 385 schreibt rückblickend: Die Tragödie “war etwas gewesen, was jedes<br />

Mitglied der Polis-Gemeinschaft persönlich <strong>und</strong> unmittelbar anging, worin es sich wiederfand <strong>und</strong> womit es sich

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