2. Ma'at und Logos. - Vergleichende - Dittmer, Jörg
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Denn auch der antiken Geschichtsschreibung gilt die Erforschung der historischen Wahrheit als<br />
Gr<strong>und</strong>postulat (s. o.), die künstlerische Darstellung jedoch, die dramatische <strong>und</strong> rhetorische<br />
Aufbereitung des Stoffes, wird zunehmend (<strong>und</strong> entgegen den auf das ≤afe´Ó <strong>und</strong> die aäkri´beia<br />
gerichteten Intentionen des Thukydides) zu einem gleichrangigen oder sogar hauptsächlichen<br />
Anliegen der antiken Historiographie. Im literarisch gestalteten Rühmen geleisteter Taten<br />
(aäreth´-Orientierung) setzte sie die homerische Tradition fort <strong>und</strong> schuf im Bewusstsein der<br />
Wandelbarkeit des menschlichen Lebens <strong>und</strong> seiner Wechselfälle Erinnerungsbilder, die im<br />
Prozess der hypoleptisch-agonistischen Intertextualität zu im Laufe der Zeit variierenden, aber<br />
für die europäische Geschichte (gerade auch wegen ihrer Variabilität) bis heute bedeutsamen<br />
Markierungen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>mustern des kulturellen Gedächtnisses geworden sind.<br />
Zusammenfassend <strong>und</strong> ergänzend läßt sich daher sagen: Geschichte als ritualentb<strong>und</strong>enes, von<br />
individuellen Menschen getragenes Geschehen wird durch das Tun des Neuen <strong>und</strong> das Treffen<br />
von Entscheidungen in den offenen Horizont der Zukunft hinein konstituiert, <strong>und</strong> diese<br />
Geschichtsauffassung haben die Griechen begründet, indem sie “die Welt von Polis <strong>und</strong> Politik<br />
aus der sie umgebenden Natur herausgelöst” 165 haben. Mit der Entdeckung der Handlung als<br />
Entscheidung <strong>und</strong> Täterschaft auf der einen <strong>und</strong> Verantwortung auf der anderen Seite, deren<br />
Probleme in der attischen Tragödie <strong>und</strong> der politischen Philosophie thematisiert sind, wird ein<br />
wichtiger Baustein für die abendländische Geschichtsanschauung gelegt. Geschichte ist demnach<br />
bestimmt von der Tat, zu der sich der Mensch in freier Wahl im Angesicht der Zukunft<br />
entscheidet, die er nach seinem Willen vollzieht <strong>und</strong> für die er umgekehrt verantwortlich ist; denn<br />
wie jede Handlung einmalig-situativ <strong>und</strong> unwiederholbar ist, so ist sie auch vom Handeln anderer<br />
abhängig, so da· ihr Ergebnis nie mit der Absicht identisch ist, aber dennoch die Handlung<br />
unwiderrufbar bleibt. Die griechische Geschichtsauffassung steht damit in deutlichem Gegensatz<br />
zur altägyptischen zyklisch-ritualorientierten Geschichtsauffassung <strong>und</strong> stellt mit ihrer<br />
Gr<strong>und</strong>ausrichtung auf die empirisch erhebbare <strong>und</strong> gedanklich fassbare Struktur des<br />
Menschlichen <strong>und</strong> mit ihren Anspruch auf Wahrheit eine notwendige Vorstufe zur modernen<br />
Geschichtsauffassung dar, die besonders durch die Aufnahme des teleologischen Elementes aus<br />
dem jüdisch-christlichen Denken <strong>und</strong> durch die aus der Trennung von res cogitans <strong>und</strong> res<br />
extensa folgende Subjektivierung in ihrem Fortschrittsglauben weit darüber hinaus ging. Die<br />
Griechen nehmen eine Zwischenstellung ein: “Man sah damals nicht mehr im Sinne alter<br />
orientalischer Vorstellungen Politik <strong>und</strong> Natur in eins, nahm nicht etwa mehr eine feste<br />
Zuordnung von Zeit <strong>und</strong> politischer Ordnung vor. ... Die Zeit war nicht mehr die Zeit bestimmter<br />
politischer Gebilde, die sich für die Welt hielten, <strong>und</strong> noch nicht die Zeit einer unabhängig von<br />
165 Ebd. 603.