Bild - Verband Bildungsmedien eV
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Kinder danach sortieren, ob sie an unsere Schule passen oder<br />
nicht, so lange wird sich auch nichts verändern. Dies bedeutet<br />
eine ganz strikte Herausforderung an uns, dieses Schubladendenken<br />
aufzugeben und in der Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung<br />
die entsprechenden Grundlagen zu legen, die uns befähigen,<br />
mit diesen Kindern so umzugehen, wie wir es in der einzelnen<br />
Schule vorfinden. Das ist der entscheidende Punkt.<br />
Bei all den Diskussionen über die Hauptschule sind die Realschulen<br />
ganz in den Hintergrund geraten, über sie wurde in den<br />
letzten Jahren nur sehr selten gesprochen. Ich denke, man muss<br />
schon ganz klar sagen, dass aus der Hauptschule in den letzten<br />
Jahren viel Innovatives gekommen ist, was die anderen Schulformen<br />
dann aufgegriffen haben. Doch wie man sieht, hat auch<br />
das ihr nichts genützt. Die Pisa-Ergebnisse stellen uns zusammen<br />
mit der sich abzeichnenden demografischen Entwicklung<br />
vor neue Herausforderungen, und deswegen habe ich eingangs<br />
ja auch gesagt, dass mir die Behauptung, die Hauptschule sei in<br />
der Sackgasse, schlicht zu kurz greift. Wenn wir uns in einem<br />
gegliederten System befinden, dann ist nicht nur eine Schulform,<br />
sondern das gesamte System in der Krise. Wenn ich<br />
irgendwo an einer Stellschraube drehe, dann wird sich dadurch<br />
nichts verändern.<br />
Ich glaube, dass Eltern eine neue Schulform wie die als Alternative<br />
diskutierte Gemeinschaftsschule oder allgemeine Sekundarschule<br />
anwählen würden, weil sie darin die Chance sehen,<br />
dass ihr Kind in dieser Schulform alle Abschlüsse erreichen<br />
kann, und weil es dort das Abschulen und die damit verbundene<br />
Demotivierung der Kinder nicht mehr gibt. Das ist ein ganz<br />
entscheidender Punkt, den man nicht außer Acht lassen kann.<br />
Herr Silbernagel diskutiert aus der Sicht des Gymnasiums und<br />
aus der Sicht desjenigen, der Schüler an andere Schulformen<br />
abgibt, wenn sie in seiner Schulform nicht klarkommen. Bei<br />
diesem Abgeben von Schülern steht natürlich die Hauptschule<br />
an der letzten Stelle, und das ist etwas, was die Hauptschule<br />
über Jahre hinweg immer belastet hat. Sie war das Sammelbecken<br />
aller Problemfälle, die die anderen Schulen nicht haben<br />
wollten. Von dieser Rollenzuweisung muss man sie ein Stück<br />
weit befreien, und man muss das Stigma von den Schülerinnen<br />
und Schülern wegnehmen, die an dieser Schulform sind.<br />
STATEMENT<br />
Jürgen Oelkers<br />
Wenn man wie ich 20 Jahre in der Schweiz gelebt hat, gewinnt<br />
man schon den Eindruck, dass man sich dort in einem sehr<br />
anderen System befindet. Generell ist es so, dass gegliederte<br />
Systeme in Europa auslaufende Modelle sind. Es existiert einfach<br />
ganz unabhängig von der demografischen Entwicklung ein<br />
Schub in Richtung gestuftes Schulsystem, wobei man auf den<br />
Stufen bestimmte Zweige unterscheidet. Dass nach vier Jahren<br />
Grundschule selektioniert wird, ist ein Sonderfall, den man nur<br />
in Deutschland und Österreich findet. Die Einschulung mit<br />
sechs Jahren ist auch ein Sonderfall. In den meisten europäischen<br />
Ländern gibt es ausgebaute Vorschulsysteme, die teilweise<br />
obligatorisch, teilweise privat zu nutzen sind. Doch die<br />
Idee, mit sechs einzuschulen und vier Jahre später zu selektionieren,<br />
ist einzigartig mit allen Konsequenzen, die das hat.<br />
Beim Thema Gesamtschule würde ich sagen, dass das Etikett<br />
für sich genommen wenig wert ist. Es gibt sehr schlechte<br />
Gesamtschulsysteme in der Welt. Es gibt Selektion im System<br />
wie in Italien, es gibt Selektion neben dem System wie in<br />
Japan, und es gibt Selektion nach dem System wie in Finnland.<br />
Wenn über Finnland diskutiert wird, erwähnt man nur selten,<br />
dass die Jugendarbeitslosigkeit dort konstant bei 20 Prozent<br />
liegt. Es gibt sozusagen nicht einfach vom System her die eine<br />
beste aller Wahlmöglichkeiten, sondern man muss anschauen,<br />
wie das eigene System entwickelt wird. Das verfolge ich mit<br />
Interesse.<br />
Schon nach der ersten <strong>Bild</strong>ungskatastrophe der Jahre 1964/65<br />
wurde über Systemwechsel diskutiert, doch im Unterschied zu<br />
damals ist man heute sehr viel pragmatischer und sehr viel realitätsgerechter.<br />
Das sehe ich schon als Fortschritt. Die Schweiz<br />
reformiert, wie sie das immer macht, gründlich nach langen<br />
Debatten. Wir werden das System komplett umbauen, dafür<br />
gibt es inzwischen eine klare Entwicklungsstrategie, über die<br />
bereits abgestimmt wurde. Wir werden früher einschulen, und<br />
zwar nach dem Ende des 4. Lebensjahres. Die Gesamtdauer der<br />
Schulpflicht verlängert sich um zwei Jahre. Es wird ein gestuftes<br />
Primarschulsystem geben, in dem die 1. bis 8. Klasse von<br />
allen gemeinsam durchlaufen wird. Eine Gesamtschule für alle,<br />
kantonal unterschiedlich organisiert. Dann folgen die Sekundarstufen<br />
I und II. Nach der 6. Klasse werden die Schüler in eine<br />
bestimmte Strömung gesetzt; es wird in aller Regel vier Jahre<br />
Gymnasium geben, wie auch heute schon in den meisten Kantonen<br />
üblich (eine Ausnahme bildet der Kanton Zürich mit<br />
einer sechsjährigen Gymnasialzeit).<br />
Beim Thema Chancengleichheit wird es um gezielte frühe Förderung<br />
gehen. Wer früher anfängt, hat auch mehr Chancen,<br />
gezielt und individueller zu fördern, ohne Selektionsdruck zu<br />
haben. Weiterhin werden wir Daten erheben, das heißt, wir<br />
werden an drei Zeitpunkten nationale Tests machen, in der 2.,<br />
6. und 9. Klasse. Anders als bei Pisa, wo man im Grunde keine<br />
Rückmeldesysteme hat, sind die Tests so gebaut, dass sie auf<br />
der Unterrichtsstufe ein Feedback vorsehen. Die Lehrkräfte<br />
erhalten die Daten ihrer jeweiligen Tests und müssen sich darauf<br />
einstellen, dass eine Reaktion auf das Ergebnis erfolgen<br />
wird. Wenn man schaut, wie Lehrkräfte auf so etwas reagieren,<br />
dann registriert man in Deutschland eine ablehnende Haltung.<br />
Man hält ein solches Vorgehen für technokratisch und für nicht<br />
statthaft, während wir gute Erfahrungen damit machen, sofern<br />
die Tests nicht selektiv sind. Sie sind so konzipiert, dass die<br />
Lehrkräfte mit den Ergebnissen unmittelbar etwas anfangen<br />
können. Also das Ganze ist sehr viel pragmatischer und mehr<br />
darauf bezogen, wie sich Schulen tatsächlich entwickeln können.<br />
Der Neubau des Systems hat den einzig wirklich wichtigen<br />
Zweck, die Unterrichtsqualität besser zu machen.<br />
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