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Bild - Verband Bildungsmedien eV

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mehr Kinder zur Welt kommen, als zur Reproduktion nötig sind.<br />

Und die französischen Mütter verstehen nicht, dass die deutschen<br />

Mütter Hemmungen haben, ihr Kind am Tag in eine gute<br />

Kinderkrippe zu geben und ihrem Beruf nachzugehen. Frankreich<br />

ist ein ungeheuer familienfreundliches Land. Ich bin<br />

dafür, dass wir Kindern Gemeinschaftserziehung anbieten und<br />

später die Jugendlichen verpflichten, den ganzen Tag an der<br />

Schule zu sein, aber das heißt vormittags Schule, gemeinsam<br />

Mittagessen und dann natürlich Spiel, Spiel, Spiel.<br />

Wie kann sonst eine alleinerziehende Mutter ihrem Beruf nachgehen,<br />

um Geld zu verdienen? Sie hat heute keine Chance, ihre<br />

Existenz zu sichern, wenn sie keine Mutter oder sonstige Verwandte<br />

hat, die die Betreuung übernehmen können, und wenn<br />

sie auch nicht Geld hat, um die teuren Krippenplätze zu bezahlen?<br />

Sie ist verlassen. Was wäre es für ein Segen, wenn die Kinder<br />

aus bildungsfernen Schichten am Nachmittag nicht vor dem<br />

Fernsehen verdämmern oder auf der Straße rumlungern würden<br />

oder wenn die Migrantenkinder nicht den Kontakt zu den deutschen<br />

Kindern verlören, sondern in einer Ganztagseinrichtung<br />

aufgehoben wären. Doch wird kein Migrantenkind am Nachmittag<br />

im Kindergarten oder in der Grundschule sein, wenn es<br />

nicht verpflichtend ist. Dies trifft genauso auf die Kinder aus<br />

bildungsfernen Schichten zu. Und deswegen müssen wir heute<br />

fordern, dass die Ganztagserziehung vom Kindergarten an verpflichtend<br />

gemacht wird.<br />

Die Familie sollte natürlich die Kernzelle der Erziehung bleiben.<br />

Nur existieren die Familien ja heute nicht mehr oder vielleicht<br />

höchstens zu etwa einem Drittel in der traditionellen Form.<br />

Dreißig Prozent der Kinder sind außerdem Einzelkinder, und für<br />

diese Einzelkinder ist es doch ein Verhängnis, dass sie sich nie<br />

mit anderen Gleichaltrigen auseinandersetzen müssen, außer<br />

im Schulunterricht und am Vormittag im Kindergarten. Sie erleben<br />

keine Eifersucht, keinen Neid und keine Ungerechtigkeit,<br />

weil sie nie etwas teilen müssen. Für diese Kinder ist es doch<br />

ein Segen, wenn sie in eine Gemeinschaft kommen. Für mich<br />

ist die Gemeinschaftserziehung zunächst einmal eine Ergänzung<br />

und Fortsetzung einer gelungenen Erziehung in der Familie<br />

und somit etwas Positives. Leider ist heute Gemeinschaftserziehung<br />

häufig der Ersatz für mangelnde Familienerziehung.<br />

Das ist kummervoll, ist aber eine Realität. Wir sollten aber<br />

mutig diesen Weg der Gemeinschaftserziehung beschreiten.<br />

STATEMENT<br />

Erziehungsnotstand und Disziplin<br />

Ulrich Herrmann<br />

Ob Herr Bueb mit seinem Buch „Lob der Disziplin“ den „Zeitgeist“<br />

getroffen hat, mag ja sein. Der Zeitgeist wird ja immer<br />

dann beschworen, wenn man nicht so genau weiß, worum es<br />

eigentlich geht. Aber Herr Bueb hat auf alle Fälle einen Nerv<br />

getroffen, sonst wäre das Buch nicht auf den Bestsellerlisten,<br />

und der Nerv, den Herr Bueb getroffen hat, heißt Erziehungsnotstand.<br />

Insofern ist ein Zeitphänomen getroffen.<br />

Wenn man Studien zur Lehrerbelastung zu Rate zieht, in denen<br />

Lehrerinnen und Lehrer gefragt wurden, welches denn ihr größtes<br />

Problem im Schulalltag sei, dann werden an erster Stelle Disziplinprobleme<br />

genannt. Insofern ist das Thema Disziplin richtig<br />

und wichtig, sonst wäre auch die große Aufmerksamkeit,<br />

die es erfährt, nicht zu erklären.<br />

Die Beschreibung des Erziehungsnotstands, die Herr Bueb liefert,<br />

erscheint mir nur zum Teil richtig zu sein. Ich glaube, er<br />

sieht die Sache zu personalisiert. Er spricht von der Schwäche<br />

der Eltern und von der Schwäche der Lehrer, die sich nicht<br />

durchsetzen können oder sich nicht durchsetzen wollen. Ich<br />

würde es vorziehen, die Dinge immer auch strukturell zu sehen.<br />

Etwa so: Lehrerinnen und Lehrer sehen an einem Unterrichtsvormittag<br />

mit sechs Stunden und Klassen mit 30 Kindern 180<br />

Kinder und junge Leute. Danach ist die Schule als Halbtagsschule<br />

zu Ende, den einzelnen Schüler sieht ein Lehrer – wenn<br />

überhaupt – also in einem winzigen Zeitfenster, richtiger: Er<br />

sieht ihn gar nicht! In einer solchen Situation kann niemand<br />

einen Erziehungsauftrag wahrnehmen. Und wenn die Schule<br />

dann noch so konstruiert ist, dass die Inhalte und die Betriebsform<br />

des Unterrichts – Frontalunterricht im 45-Minuten-Takt,<br />

keine Möglichkeit zu konzentrierter Einzel- und Gruppenarbeit<br />

in größeren Zeitfenstern – den Interessen junger Leute und<br />

dem, was sie lernen und arbeiten möchten, nicht entgegenkommen,<br />

dann darf man sich nicht wundern, dass sie mit dem<br />

darauf reagieren, was „Disziplinlosigkeit“ genannt wird.<br />

Herr Bueb hat zu Beginn seiner Ausführungen den präzisen<br />

Gebrauch der Sprache angemahnt. Sprache ist bekanntlich in<br />

ihren Bedeutungen nicht eindeutig. Er hat gesagt, man solle<br />

„wahrhaftig“ sein in seiner Sprache, dann sehe man auch die<br />

Sache, so wie die Sprache sie benennt. Aber „führen“ hat, seitdem<br />

wir einen „Führer“ hatten, einen bestimmten Beiklang,<br />

den wir nicht schätzen. Und Disziplin kann ja auch Kasernenhofdisziplin<br />

sein. Deswegen wäre ich auch mit dem Thema Disziplin<br />

in der Familie ein bisschen vorsichtig. Wenn man heute<br />

davon spricht, dass Kinder immer häufiger verwahrlost werden,<br />

müsste man wieder fragen, woran das liegt. Herr Bueb sagt, für<br />

sehr viele Kinder existiere gar keine vollständige Familie, sondern<br />

nur ein Elternteil, und der ist in der Regel auch noch<br />

berufstätig. Die Kinder sind dann am Nachmittag irgendwo.Vor<br />

dreißig Jahren diskutierte man über eine Karikatur, die zeigt,<br />

wie die Kids vorm Fernseher sitzen, und die Unterschrift hieß:<br />

„Und wo lassen Sie erziehen?“ Das kommt dem Verwahrlosungsproblem<br />

strukturell viel näher, als wir es seit Jahrzehnten<br />

wahrgenommen haben. Herr Bueb macht mit seinem Buch auf<br />

einen Sachverhalt aufmerksam, dem wir – die Berater, die Schulen,<br />

die Pädagogen, die Erziehungswissenschaftler – uns im<br />

Rahmen der Lebensbedingungen und des Lebensalltags der Heranwachsenden<br />

in den letzten dreißig Jahren in der Tat nicht<br />

wirklich zugewandt haben.<br />

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