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Bild - Verband Bildungsmedien eV

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Schulwahl: Möllemann-Appelhoff/Hendricks/Solzbacher/Timp<br />

Was muss sich an Schule ändern?<br />

Bei der Diskussion darüber, was sich auf der Lehrerseite ändern<br />

muss, sollte uns eines deutlich werden: So schön es auch ist,<br />

wenn Lehrer Pädagogen sind, und so wünschenswert es wäre,<br />

wenn sie mehr Ahnung von Pädagogik und Psychologie auch im<br />

Studium vermittelt bekämen, im Endeffekt sind Lehrer vor<br />

allem eines: Vollzugsbeamte. Das klingt jetzt ziemlich gemein,<br />

aber sie sind nichts anderes als Vollzugsbeamte, und sie vollziehen<br />

Verwaltungsrecht, und so werden sie auch behandelt. Sie<br />

bekommen eine Dienstanweisung und haben gefälligst danach<br />

zu handeln. Das ist etwas, das viele Lehrer, mit denen ich auch<br />

in meiner Praxis zu tun habe, wahnsinnig frustriert, insbesondere<br />

wenn sie politisch gewollte, d. h. ohne pädagogischen<br />

Sachverstand getroffene Entscheidungen umsetzen sollen.<br />

Wenn Sie einen Lehrer mit allem beauftragen, was an der Schule<br />

so anliegt, dann hat er nicht mehr viel Zeit und Elan, sich um<br />

etwas anderes zu kümmern. Tenor in der Lehrerschaft ist<br />

momentan: „Nicht das auch noch!“ Da gibt es ein Attentat in<br />

Thüringen, und die erste Reaktion war: Die Schule muss<br />

„Gewaltprävention“ machen. Dann gibt es einen Aufschrei, die<br />

Kinder seien alle zu dick, jetzt muss die Schule zudem noch<br />

„gesunde Ernährung“ vermitteln. Die dicken Kinder kriegen<br />

Bluthochdruck, und alle Schulen haben über den Bluthochdruck<br />

zu informieren, und wenn die Leute nicht mehr imstande sind,<br />

einen Vertrag zu lesen, werden wir demnächst alle Lehrer dazu<br />

verpflichten, an Schulen Vertragsrecht zu vermitteln. Heute<br />

morgen habe ich im Radio gehört, dass Kinder zu wenig Zeitung<br />

lesen. Ich warte auf die Reaktion des Ministeriums, das<br />

per Dienstanweisung alle Schulen verpflichtet, die Kinder darauf<br />

hinzuweisen, Zeitung zu lesen.<br />

Die Lehrer werden praktisch mit Sachen beauftragt, die die<br />

Eltern heute nicht mehr tun. Ich erlebe gerade etwas sehr Lustiges.<br />

Es ist immer wieder zu hören, dass Familie und Beruf<br />

schwer zu vereinbaren seien. Ich lebe in Gelsenkirchen, einer<br />

Stadt, die in weiten Teilen eine Arbeitslosenquote fast höher als<br />

Ostdeutschland hat, so an die 20 Prozent. Da können Sie mir<br />

nicht erzählen, dass die Eltern keine Zeit haben, denn die sitzen<br />

arbeitslos zu Hause. Sie tun aber nichts. Und da kann auch<br />

die beste Schule nicht viel erreichen. Es gibt Eltern, die sind<br />

beratungsresistent, und es gibt Eltern, die haben die Schule das<br />

letzte Mal betreten, als sie ihr Kind angemeldet haben. Sie werden<br />

regelmäßig schriftlich aufgefordert, in der Schule zu einem<br />

Gespräch über ihr Kind zu erscheinen, und sie ignorieren dies<br />

mit konstanter Boshaftigkeit oder komplettem Desinteresse.<br />

Schule kann den Eltern auch nur soweit helfen, wie Eltern mitmachen.<br />

Und die Eltern sind nicht gänzlich aus ihrer Verantwortung<br />

entlassen. Die Eltern ersetzen kann der beste Lehrer nicht.<br />

Thema Nachhilfe<br />

Als Schulpsychologe habe ich oft genug genau die Situation<br />

gehabt, dass Eltern sich bei mir darüber beklagt haben, sie<br />

könnten ihr Kind nicht mehr aufs Gymnasium schicken, da sie<br />

so viel für Nachhilfe in Englisch, Mathe und Deutsch bezahlen<br />

müssten. Überall stehe das Kind auf einer Fünf. Wenn ein Kind<br />

in allen drei Fächern auf Fünf steht, und das nicht, weil es<br />

monatelang krank war, sondern konstant, die berühmte Beton-<br />

Fünf also, dann sollte man als Elternteil so viel Verantwortung<br />

haben, zu überlegen, ob es denn wirklich die richtige Schulform<br />

ist, und nicht der Schule immer wieder den Vorwurf machen,<br />

dass sie dem Kind so wenig individuelle Förderung angedeihen<br />

lässt. Wenn ich als Elternteil die falsche Schule oder Schulform<br />

wähle, dann ist Scheitern vorprogrammiert. Hier sollten die<br />

Eltern dem Rat der Lehrer folgen, das Kind die Klasse wiederholen<br />

lassen oder danach die Schulform wechseln.<br />

Warum ich zu wenig das System kritisiere? Zum einen weil der<br />

Platz nicht reicht, zum anderen weil Systemkritik immer Kritik<br />

an Schulpolitik ist. Und weil aktuell bei der Fragestellung „Was<br />

ist die richtige Schule für mein Kind?“ Systemkritik keine hilfreiche<br />

Antwort auf die Frage ist.<br />

Ich bin beratender und behandelnder Psychologe, mein Job ist<br />

es, dafür zu sorgen, dass es Ihrem Kind besser geht. Ich kann<br />

die Schule, das Schulsystem, nicht ändern, ich habe überhaupt<br />

keinen Einfluss darauf. Was ich tun kann, ist, mit Ihnen darüber<br />

zu reden. Das könnte auch ein guter Lehrer tun, wenn er<br />

denn die Ausbildung dafür hätte, Sie so zu beraten, dass Sie<br />

erkennen, dass aller Ehrgeiz, den Sie für Ihr Kind haben, ins<br />

Leere läuft, weil ihr Kind den Anforderungen dieser Schule<br />

nicht gewachsen ist.<br />

Dazu will ich Ihnen ein vielleicht drastisches Beispiel geben. Ich<br />

hatte vor drei, vier Jahren einen jungen Mann bei mir in der<br />

Praxis mit der Diagnose „Prüfungsangst“. Er studierte im ersten<br />

Semester an der Fachhochschule in Gelsenkirchen. Dann habe<br />

ich bei ihm, was ich bei der Diagnose „Prüfungsangst“ meistens<br />

mache, einen Intelligenztest gemacht, um zu überprüfen, was<br />

er denn kann. Hat er ein Leistungsdefizit oder ist es einfach ein<br />

normal entwickelter Mensch, der klar und logisch denken<br />

kann, aber in der Prüfung scheitert. Ich habe dabei festgestellt,<br />

dass dieser junge Mensch einen Intelligenzquotienten an der<br />

Grenze zum Schwachsinn hat. Ich habe dann noch einen –<br />

anderen – Intelligenztest gemacht und dasselbe festgestellt;<br />

also ich habe mich wahrscheinlich nicht „vermessen“. Dieser<br />

junge Mann hatte eine Fachhochschulreife von einer Gesamtschule<br />

in NRW.<br />

Wäre er früher bei mir gelandet, hätte man ihm vieles erspart,<br />

u. a. das Wissen, dass er eine Hochschule, an der er zugelassen<br />

ist, nie, aber auch niemals bestehen kann. Dieser Mensch hat<br />

dort einfach keine Chance, und hätte man ihn rechtzeitig beraten,<br />

wäre es ihm viel, viel besser ergangen als mit dem Gefühl<br />

und Wissen: „Ich habe ein Zertifikat: Fachhochschulreife NRW,<br />

bin aber den banalsten Anforderungen dieser Einrichtung auf<br />

mich allein gestellt nicht gewachsen.“<br />

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