Weblink...(PDF) - Dr. Stephan Rosiny
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Das Wissen um die sehr unterschiedlichen Interpretationen und Handlungsoptionen im Islam<br />
und eine Sensibilität für die mannigfachen religiösen (und häufig auch nichtreligiösen!) Motive<br />
der Schüler/innen können zu einem Perspektivwechsel beitragen. So sollte der Islam<br />
nicht nur als eine reine Verbots-, Defizit- und Problemreligion wahrgenommen werden, sondern<br />
vielmehr die Chancen und das Veränderungspotential thematisiert werden, das ein<br />
ethisches Verständnis des Islams bieten kann. Zunächst muss hierfür die essentialistische<br />
Vorstellung aufgebrochen werden, der Islam habe ein ewiges, überall gültiges Wesen, und<br />
das Handeln und Denken von Muslimen sei homogen und allzeit ausschließlich von ihrer<br />
Religion bestimmt. Denn bereits ein Blick auf die Formen des in Deutschland gelebten Islams<br />
belegt eine enorme Vielfalt.<br />
Islam in Deutschland<br />
Der Islam ist mit 1,3 Milliarden Anhängern nach dem Christentum die zweitgrößte Weltreligion.<br />
In Deutschland leben rund vier Millionen Menschen mit muslimischem Hintergrund, von<br />
denen derzeit etwa 750.000 eine Schule besuchen. Da es im Islam weder eine offizielle Mitgliedschaft<br />
noch eine formalisierte Austrittsmöglichkeit gibt, werden die Zahlen der in<br />
Deutschland lebenden Muslime deshalb meist aus ihrer nationalen Herkunft abgeleitet. Die<br />
Muslime in Deutschland sind sehr heterogen in ihrer Zusammensetzung. Sie unterscheiden<br />
sich nach Konfessionen (Sunniten, Schiiten, Aleviten, Ahmadiya), nach Rechtsauslegung<br />
(etwa die vier sunntischen Rechtschulen Hanbaliten, Malikiten, Schafiiten und Hanafiten),<br />
und Organisationsformen (Dachverbände, Moscheegemeinden, mystische Sufibruderschaften,<br />
religiöse Parteien), im Grade ihrer religiösen Praxis und Gläubigkeit und in ihrem Religionsverständnis<br />
(Traditionalisten, Reformer, Modernisten). Diese Richtungen unterscheiden<br />
sich in ihrem Islamverständnis und ihrer religiösen Praxis, etwa bei Ritualen und Festen, teils<br />
deutlich voneinander. Aber selbst Atheisten tauchen in der Statistik auf und werden im öffentlichen<br />
Diskurs mitunter als Vertreter des Islams wahrgenommen.<br />
Muslime zeigen eine unterschiedliche Flexibilität und Bereitschaft, sich in die deutsche Gesellschaft<br />
einzugliedern. Das ist abhängig von einer Vielzahl sozialer, ökonomischer, historischer,<br />
psychologischer oder auch religiöser Faktoren. So sind Anhänger der hanbalitischen<br />
Rechtsschule, zu denen etwa die besonders konservativen saudischen Wahhabiten gehören,<br />
eher textfundamentalistisch und fordern eine getreue Imitation des Lebens von Muhammad,<br />
weshalb sie einem Leben in nichtislamischer Umgebung skeptisch gegenüberstehen.<br />
Hanafiten, die etwa in der Türkei die Mehrheit bilden, können aus rein religiöser Perspektive<br />
als grundsätzlich integrationsbereit gelten. Ihnen ist – wie eigentlich allen sunnitischen<br />
und schiitischen Muslimen - vorgeschrieben, sich an staatliche Gesetze zu halten,<br />
auch wenn der Staat nicht von einer muslimischen Regierung geführt wird. Auch schafi'itische,<br />
schiitische und andere Rechtsgelehrte verlangen Gesetzesgehorsam von den Gläubigen,<br />
da sie durch ihre Aufenthaltsgenehmigung einen „Vertrag“ mit dem deutschen Staat<br />
geschlossen haben, der islamrechtlich bindend sei. Sufis, in Bruderschaften organisierte<br />
Mystiker, praktizieren einen nach Innen gekehrten Glauben und sind in der Regel unpolitisch<br />
und unauffällig. Am wenigsten Probleme mit einer säkularen Gesellschaftsordnung und Gesetzgebung<br />
haben wohl die Aleviten. Heute finden sich außerdem Richtungen, die eine<br />
Kombination der verschiedenen Rechtsschulen zulassen oder diese insgesamt für überholt<br />
halten. Sowohl konservative und islamistische Strömungen als auch einige progressive Reformer<br />
fordern eine Rückkehr ad fontes, zu einem wahren, ursprünglichen Islam des Korans.<br />
Reformer stehen dabei anderen Quellen wie den Überlieferungen von Aussprüchen und Taten<br />
des Propheten (Hadīth), in denen sich im Vergleich zum Koran viele Verschärfungen und<br />
eine insgesamt konservativere Grundhaltung finden, skeptisch gegenüber. Anders die islamistischen<br />
Strömungen, für die die Überlieferungen vom Propheten von maßgeblicher Bedeutung<br />
für ihr Islamverständnis sind. Islamisten und progressive Reformer distanzieren sich<br />
von kulturell bedingten und traditionsgeleiteten Verhaltensweisen und Bräuchen wie etwa<br />
dem Ehrenmord. In der Diaspora treffen sich nun diese verschiedenen Richtungen und Deutungen,<br />
die im Nahen und Mittleren Osten oft sozialräumlich getrennt leben.<br />
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