KAPITEL D - Kinematik der StrömungenD.1 Geschwindigkeit, Bahn-, Strom-, Streich- <strong>und</strong> Zeitlinie<strong>Strömungsmechanik</strong> ist die Lehre von Bewegung <strong>und</strong> Kräftegleichgewicht der Fluide, wobei die einzelnenMassenteilchen <strong>im</strong> Zeitablauf große gegenseitige Verschiebungen erfahren, sodaß ein Zusammenhaltder Gesamtmasse wie bei den festen Körpern nicht mehr gegeben ist. Demgemäß erfordert diegesetzmäßige Erfassung strömender Fluide besondere Betrachtungsweisen.Bei der Lagrangeschen ∗ Betrachtungsweise faßt man zu einem Zeitpunkt t 0 das Fluid aus punktförmigenEinzelmassen zusammengesetzt auf <strong>und</strong> verfolgt den anschließenden Bewegungsablauf jedes einzelnenMassenelementes zur Zeit t > t 0 . Die Lage eines Teilchens wird• zum Zeitpunkt t 0 durch den Ortsvektor ⃗r 0 = (x 0 , y 0 , z 0 )• <strong>und</strong> danach zeitabhängig durch den Ortsvektor ⃗r = ⃗r(⃗r 0 , t) = (x(⃗r 0 , t), y(⃗r 0 , t), z(⃗r 0 , t)) dargestellt.Verfolgt man den Weg eines Fluidteilchens,so entsteht eine Bahnlinie, die als Zeitaufnahmeeines markierten Teilchens angesehen werden kann. ImZeitintervall dt wird längs dieser Bahnlinie der Wegd⃗s = ⃗r(t + dt) − ⃗r(t) = d⃗rzurückgelegt.Daraus erhält man die Geschwindigkeit des betrachteten Teilchens zum Zeitpunkt t an der Stelle⃗r = ⃗r(⃗r 0 , t):d⃗rdt = d⃗sdt = ⃗v(⃗r 0, t) = (v x , v y , v z )(D.1)Der Geschwindigkeitsvektor muß die Bahnlinie natürlich tangieren. Ist umgekehrt die Geschwindigkeitgegeben, so kann die neue Lage ⃗r(⃗r 0 , t 1 ): eines Fluidteilches zum Zeitpunkt t 1 berechnet werden:∫x 1d⃗s = ⃗vdt ⇒ (dx, dy, dz) = (v x dt, v y dt, v z dt) ⇒x 0dx = x 1 − x 0 =∫ t 1t 0v x dt ⇒ x 1 = x 0 +∫ t 1∫ t 1y 1 = y 0 + v y dtt 0v x dt (D.2)t 0∫ t 1z 1 = z 0 + v z dtt 0∗ Johann Louis Lagrange (1763 - 1813, Frankreich), Mathematiker <strong>und</strong> theoretischer Mechaniker. Er führte dasGeschwindigkeitspotential <strong>und</strong> die Stromfunktion (siehe Skript <strong>Strömungsmechanik</strong> II) in die Hydromechanik ein. Außerdemleitete er die Gleichung <strong>für</strong> die Wellenfortpflanzungsgeschwindigkeit in offenen Gerinnen ab). Die oben erwähnteLagrangesche Betrachtungsweise geht allerdings auf Euler zurück.- 34 -
D.1. Geschwindigkeit, Bahn-, Strom-, Streich- <strong>und</strong> ZeitlinieBei Lagrangescher Betrachtungsweise erhält man die Beschleunigung aus der Ableitung der Geschwindigkeitnach der Zeit bei festgehaltenem r 0 , d.h. aus der partiellen Ableitung ∂⃗v∂t . Wendetman auf ein Massenteilchen das Newtonsche Gr<strong>und</strong>gesetz (Kraft = Masse * Beschleunigung) an,so ergeben sich die Lagrangeschen Gleichungen der <strong>Strömungsmechanik</strong>, deren Lösung jedoch <strong>im</strong>allgemeinen auf größere mathematische Schwierigkeiten stößt.Deshalb wird man in der Regel die wesentlich vorteilhaftere Eulersche ∗ Betrachtungsweise anwenden,die das individuelle Schicksal“ der Massenteilchen unbeachtet läßt, <strong>und</strong> stattdessen danach fragt,”welche Geschwindigkeit (<strong>und</strong> andere Größen) an einem festgehaltenen Ort zu jedem Zeitpunkt t herrschen.Die strömungsmechanischen Größen werden also nicht den Fluidteilchen, sondern den Punkten(x, y, z, t) des Raum-Zeit-Kontinuums zugeordnet. Man kommt somit zu einer Feldbetrachtung zubest<strong>im</strong>mten Zeitpunkten. So gibt es z.B. Geschwindigkeits- <strong>und</strong> Druckfelder.Das Geschwindigkeitsfeld ist ein Vektorfeld, das sich in einem Versuch sichtbar machen läßt:Hierzu werden einem strömenden Fluid Schwebstoffteilchen zugesetzt <strong>und</strong> zum Zeitpunkt t mit einerBelichtungsdauer ∆t“ fotografiert. Auf dem Foto hinterlassen die Schwebstoffteilchen Spuren der”Länge ∆s, die je nach Ausgangslage (x, y, z) unterschiedliche Länge <strong>und</strong> Richtung aufweisen. Darausergeben sich die Geschwindigkeiten in bekannter Weise:v(x, y, z, t) =l<strong>im</strong>∆t→0∆s∆t = dsdt(D.3)Im Gegensatz zur Lagrangeschen Betrachtungsweisewird der weitere Weg derSchwebstoffteilchen nicht mehr verfolgt, danur die ”Feldaufnahme“ zu den einzelnenZeitpunkten t ermittelt werden soll.Verschiebung eines SchwebstoffteilchensZur anschaulichen Darstellung des Geschwindigkeitsfelds werden Stromlinien eingeführt. Darunterversteht man Linien, die an jeder Stelle des Strömungsgebietes in der Richtung der dort herrschendenGeschwindigkeit verlaufen, d.h. die Geschwindigkeitsvektoren tangieren die Stromlinien.Der Stromlinienverlauf läßt sich (<strong>für</strong> einen best<strong>im</strong>mten Zeitpunkt t) aus dem Geschwindigkeitsfeld⃗v(x, y, z) = (v x , v y , v z ) ableiten. Geschwindigkeitsvektor ⃗v <strong>und</strong> Wegelement d⃗s auf der Stromliniesind in einem betrachteten Punkt parallel:⃗v × d⃗s = ⃗0 = (0, 0, 0)(D.4)(⃗v <strong>und</strong> d⃗s spannen bei Parallelität keine Parallelogrammfläche auf, sodaß das Vektorprodukt gleich∗ Leonhard Euler (1707 - 1783), Schweizer Mathematiker mit bahnbrechenden Leistungen in allen Bereichen derMathematik <strong>und</strong> Mechanik. Er vollendete die Gr<strong>und</strong>lagen der klassischen Hydromechanik der Flüssigkeiten <strong>und</strong> kompressiblenGase. Genannt seien seine exakte Begriffsbildung <strong>für</strong> den Druck <strong>und</strong> das Eulersche Schnittprinzip. Sie ermöglichtenihm die Anwendung des Newtonschen Gesetzes auf ein Flüssigkeitsteilchen (s. Kapitel F) <strong>und</strong> daraus die Ableitungder ebenfalls nach ihm benannten Gr<strong>und</strong>gleichungen der Hydromechanik; das sind: partielle Differentialgleichungen zurBeschreibung der idealen Strömung, deren Integration längs einer Stromlinie wiederum zur Bernoulli-Gleichung führt.- 35 -