Paul Pawlowitsch – eine Skizze - Rotes Antiquariat

Seite 127
Anarchistica I
konnten.„Die Parteiorganisation hat sich als Fessel für jede selbständige Bewegung,
für jeden freien Meinungsaustausch erwiesen; sie macht ihre Mitglieder zu willenlosen
Werkzeugen einer von der Diktatur approbirten Disziplin“ 8, so die überaus ablehnende
Haltung gegenüber einem Parteimodell, das Diskussionskultur untersagt und zur
Stromlinienförmigkeit zwingt. Da sich die in der SPD organisierte deutsche Sozialdemokratie
auf dem strengen Kurs von Possibilismus und Opportunismus bewegte,
war die Eigenständigkeit das Gebot der Stunde.
Diese organisatorische Eigenständigkeit sollte aber auf rechten kleinen Füßen stehen
bleiben. Dem VUS gehörten bis Mitte Dezember 1891 etwa 450 Mitglieder an, damit
hatte er bereits seinen Zenit überschritten. Fortan stagnierte die Mitgliederzahl bzw.
entwickelte sich rückläufig. Der organisatorische Schwerpunkt dieser Vereinigung war
mit Abstand das damalige Groß-Berlin. Der Ausschluss bzw. der Austritt der Oppositionellen
aus der offiziellen SPD bedeutete rein mengenmäßig lediglich einen geringen
Aderlass. Anders sah dies bei den illegalen Vertrauensmännerkörperschaften aus. In
der „inneren Bewegung“ der Sozialdemokratie war die Opposition stark vertreten und
bildete die Mehrheit. Die Angehörigen der offiziellen Parteilinie verließen die „innere
Bewegung“, so dass D. H. Müller zu folgendem Ergebnis kam:„Was für die legale Partei
Berlins nur eine Abspaltung war, war für die ‘innere Bewegung’ der Berliner Partei tatsächlich
eine Spaltung“ 9.Und mit der VUS-Gründung schuf sich die auf oppositionellem
Kurs verbleibende „innere Bewegung“ eine nach außen hin offiziell-legal agierende
Vereinigung, die somit die erforderliche Voraussetzung schaffte, eine potentielle organisatorische
Alternative zur SPD bilden zu können. Die einzelnen VUS-Gruppen waren
in der Regel allerdings personell äußerst dünn aufgestellt und ohne größere Außenwirkung.
Die konzeptionellen Grundlagen der Politik des VUS lassen sich anhand des Inhalts der
einzelnen Ausgaben von „Der Sozialist. Organ der unabhängigen Sozialisten“ als dem
entsprechenden Sprachrohr des VUS darstellen. Sprachrohr des VUS zu sein, hieß aber
nicht, lediglich ein inhaltlich einheitliches Vereins-Organ zu sein, denn die Reichweite
des „Sozialist“ ging weit über die schmale Mitgliederbasis des VUS hinaus, d.h. der
Anteil der „unabhängigen Sozialisten“, die nicht im VUS organisiert waren und den
„Sozialist“ abonnierten bzw. lasen war um ein Mehrfaches höher als der VUS eingetragene
Mitglieder vorweisen konnte. Zudem war die Zusammensetzung des VUS und
des sympathisierenden Umfeldes von Beginn an heterogen und konfliktträchtig.
In der erwähnten Auftaktnummer des „Sozialist“ sind bereits die einzelnen programmatisch-konzeptionellen
Eckpunkte angeschnitten: „Unser Ziel ist die wirthschaftliche
und damit die soziale Befreiung der Arbeiterklasse (...) Dieses Ziel allein hat für eine
streng-sozialistische Bewegung als Grundlage zu dienen (...) Es ist klar, dass die Bewegung
durch und durch revolutionär sein muß (...) Wir verwerfen alle Kompromisse mit
den herrschenden Klassen und jedes Entgegenkommen seitens der Arbeiter (...) Darum
bleiben wir Gegner der gesetzgeberisch-parlamentarischen Thätigkeit, die Erfahrung
hat gelehrt, dass dieselbe unabwendbar zur Korruption (...) führt“ 10.
Da die Spielbühne des Parlamentarismus als politisches Interventionsfeld nach dieser
Konzeption wegfällt, richtet sich das Augenmerk auf sozio-ökonomische Kämpfe:„Uns
scheint der gewerkschaftlich-sozialistische Klassenkampf als die zweckmäßigste Form,
unter welcher der Arbeiter heute der Bourgeoisie gegenübertreten kann“ 11. Durch die
8 Ebd.
9 D.H. Müller, Idealismus und Revolution..., S. 129.
10 Der Sozialist. Organ der unabhängigen Sozialisten, 1. Jg., Nr. 1, 15. November 1891.
11 Ebd.