Paul Pawlowitsch – eine Skizze - Rotes Antiquariat
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Seite 31<br />
Anarchistica I<br />
er alles Geld aus, das ihm in die Hand kommt, auch das des „Freien Arbeiters“. Um ihn<br />
ein wenig unter Kontrolle zu halten, wird im Juli 1908 <strong>eine</strong> dreiköpfige Revisionskommission<br />
gewählt, die die Kassenführung kontrollieren soll. 5 Die Preßkommission soll in<br />
Zukunft die Artikel vor dem Ersch<strong>eine</strong>n gegenlesen, bei Bedenken solle Oerter die<br />
Stelle ändern, andernfalls werde der verantwortliche Redakteur das Zeichnen verweigern<br />
und Oerter müsse selbst zeichnen. Oerter sitzt aber weiterhin beim „Freien<br />
Arbeiter“ recht solide im Sattel. S<strong>eine</strong> schriftstellerische Fähigkeit ist kaum zu entbehren,<br />
bzw. ein Ersatz steht nicht zur Verfügung.<br />
Ende 1908 bahnen Lange und Oerter die Verschmelzung mit dem anderen in Berlin<br />
ersch<strong>eine</strong>nden anarchistischen Wochenblatt „Der Revolutionär“ an und haben dafür<br />
auch die Unterstützung von dessen Leiter <strong>Paul</strong> Frauböse, der im Gegenzug beim „Freien<br />
Arbeiter“ einsteigen soll. Doch Frauböses Kollegen, die mit ihm den „Revolutionär“ herausgeben,<br />
wollen ihm nicht folgen und bringen das Blatt ohne ihn weiter heraus.<br />
Die Ära Oerter geht Anfang 1909 zu Ende, nachdem er wegen <strong>eine</strong>r früheren Versammlungsrede<br />
in Plauen <strong>eine</strong>n Monat Gefängnis abzusitzen hat; nach der Verhandlung<br />
wird er aufgrund <strong>eine</strong>s Haftbefehls wegen <strong>eine</strong>r Berliner Versammlungsrede sofort<br />
wieder festgenommen. In <strong>eine</strong>m Brief an Lange kündigt Oerter im Februar aus dem<br />
Gefängnis heraus s<strong>eine</strong> Stellung. 6<br />
Auf der Suche nach <strong>eine</strong>m Nachfolger für Sepp Oerter wendet man sich wohl von<br />
Berlin aus an Rudolf Rocker in London, Fritz Oerter in Fürth und Hugo Warnstedt in<br />
Leipzig, ohne Erfolg. Nach Oerters Verhaftung wird das Blatt wohl im Wesentlichen von<br />
Rudolf Lange redigiert, der auch in den nächsten Jahren s<strong>eine</strong>n Einfluss beim „Freien<br />
Arbeiter“ ausdehnen kann. Er ist aber mehr der starke Mann im Hintergrund als ein<br />
Hauptredakteur im Sinne Weidners und Oerters. Lange kränkelt des öfteren (er stirbt<br />
wenige Wochen vor Beginn des 1.Weltkrieges), und die Geschäftsführung liegt bei Karl<br />
Kielmeyer, der nach <strong>eine</strong>m Jahr Haft für diverse Preßvergehen im Dezember 1908 entlassen<br />
wird und nach Oerters Ausscheiden die Stelle als Expedient/Geschäftsführer<br />
übernimmt. Die bisherige Geschäftskommission, die Oerter überwachen sollte, wird in<br />
„Preßkommission“ umbenannt und bildet die Anlaufstelle bei geschäftlichen oder redaktionellen<br />
Beschwerden. Kielmeyer figuriert auch (wie schon früher) als Besitzer der<br />
Druckerei in der Oranienstr. 15, wo das Blatt gedruckt wird.<br />
Finanziell steht es nach dem Abgang Oerters auch nicht zum Besten. Die Beilage erscheint<br />
ab 1909 nicht mehr vier-, sondern nur noch zweiseitig.Wie immer ist <strong>eine</strong>s der<br />
Hauptprobleme der mangelnde Rücklauf der Gelder, fehlende oder schleppende<br />
Bezahlung durch die Mehrbezieher; an die von Chemnitz, Delmenhorst und Dortmund<br />
wird der Versand im Mai 1909 eingestellt. 7 Zu allem Unglück erscheint ab Oktober<br />
1909 mit dem Leipziger „Anarchist“ ein weiteres Konkurrenzblatt, das den „Freien<br />
Arbeiter“ allein in Leipzig schon nach wenigen Monaten 300 Leser kostet.Wie groß die<br />
Misere ist, sieht man Ende 1910, als der „Freie Arbeiter“ sogar Namen und Schuldenstände<br />
nichtzahlender Mehrbezieher veröffentlicht. Eine Maßnahme, mit der schon<br />
der alte „Sozialist“ in den 1890ern gedroht, die er aber nie ausgeführt hatte.<br />
5 Obmann wird Rudolf Lange, der selbst nicht gerade berühmt für s<strong>eine</strong>n seriösen Umgang mit fremden<br />
Geldern ist.<br />
6 Oerter tummelt sich noch einige Jahre in der anarchistischen Bewegung, dann landet er bei den Sozialdemokraten,<br />
nach dem 1.Weltkrieg schafft er es sogar zum Ministerpräsidenten von Braunschweig.<br />
7 Die zeitweise auf fast jeder Seite im „Freien Arbeiter" abgedruckten Aufforderungen an die Leser, ihre<br />
Schulden zu begleichen, sind so charakteristisch für das Blatt, dass sie Gustav Landauer für s<strong>eine</strong> polemisch-humorige<br />
„Freie Arbeiter"-Imitation, die er in der Fastnachtsnummer s<strong>eine</strong>s „Sozialist" 1914<br />
abdruckt, übernimmt und auf fast jeder Seite des Textes solche Kästchen mit Aufforderungen platziert.