Paul Pawlowitsch – eine Skizze - Rotes Antiquariat

Seite 130 I Januar 2011
zu verringern, musste wirkungslos bleiben, das sich der Herausgeber Wilhelm Werner
dem Absetzungsversuch Gustav Landauers vom Redakteursposten widersetzte.
Die sozialdemokratisch-revolutionäre Minderheitsfraktion des VUS konnte die Vormachtstellung
der anarchistisch-sozialistischen Anhänger innerhalb des „Sozialist“
bzw. in dessen VUS-Leseumfeld nicht mehr zurückdrängen.
Die sukzessive Verschiebung der Gewichte innerhalb der Redaktion des „Sozialist“
dokumentiert sich neben der zunehmend stärker werdenden anarchistisch-sozialistischen
Blattausrichtung auch am veränderten Untertitel; ab der Nr. 30 vom 22. Juli 1893
des dritten Jahrgangs fällt mit der neuen Unterzeile „Organ aller Revolutionäre“ der
Bezug zum VUS weg. Dies war mehr als nur eine symbolische Korrektur, sondern markiert
eine ideologische und organisatorische Kehrtwende.
Diese Zäsur, die innerhalb der Redaktionsarbeit des „Sozialist“ stattfand, zeigte Wirkung.
Im letzten vollständigen Jahrgang des „alten“ „Sozialist“ finden diverse Artikel Platz und
Raum, die eindeutig anarchistisch akzentuiert sind. So beschäftigt sich Wilhelm Spohr
unter dem Titel „Welche Taktik ist die richtige?“ in der Auftaktnummer des vierten Jahrgangs
mit der Heterogenität von Aktionsformen, die von der Flugblattverteilung bis
zum Attentat reichen, um das anarchistische Ideal zu erreichen: „Das Ziel des
Anarchismus ist die Errichtung eines gesellschaftlichen Zustandes auf der Basis vollständiger
Freiheit.Der jetzige Zustand der Gesellschaft ist von diesem Ideale noch weit
entfernt. Dieser herrschende Zustand wird nicht allein von denen, die ein sichtbares
Interesse daran haben, mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten gesucht, nein, der
Gedanken, daß es so sein müsse oder daß die Menschheit nur wenig daran ändern
könne, ist auch mit tausend zähen Wurzeln in den Herzen der Unterjochten befestigt.
Die Taktik, durch welche man das Prinzip der Anarchie zum Durchbruch bringen will,
hat deshalb viele Faktoren zu berücksichtigen, sie darf keine einseitige sein. Es ist
darum garnicht am Platze, sich darüber zu wundern oder es zu bejammern, daß in der
Frage der Taktik so wenig Einigkeit unter den Anarchisten herrsche, die doch bei der
Schwierigkeit der Frage garnicht denkbar ist.“ 20
Der „anarchisierte“ „Sozialist“ sollte noch knapp über das nächste Jahr hinaus erscheinen.
Die dauerhaften Repressionsschläge gegen Redaktion, Vertrieb und Verleger des
„Sozialist“ führten aber letztlich zur Einstellung des Blattes. In der vorerst letzten, zweiten
Nummer des 5. Jahrgangs vom 12. Januar 1895 mit dem neuen Untertitel „Organ
deutscher Anarchisten“ heisst es hierzu:„Diese Umstände nun bestimmen uns den eigenartigen
gesetzlichen Verhältnissen Deutschlands den Rücken zu kehren. Wir können
uns nicht von der Staatsgewalt die Art und Weise vorschreiben lassen, in der wir
für unsere Sache Propaganda machen können (...) Deshalb brechen wir unsere Hütten
in Deutschland für diesmal ab. Wir erwarten aber von den Genossen des Auslandes,
daß sie etwas von unserem Häuserbau gelernt haben.“ 21 Somit trat eine erzwungene
Auszeit der Neufindung ein. Allerdings sollte die Einstellung der Erscheinung des
„Sozialist“ nur einige Monate dauern, im August 1895 wurde der „Sozialist“ als „Neue
Folge“ wieder herausgebracht.
Was wurde aus dem VUS? Nach dem Austritt bzw. Ausschluss der verbliebenen sozialdemokratisch
orientierten Rest-Fraktion aus dem VUS war jenem nur noch ein langsames,
aber sicheres Ende beschieden, da von anarchistisch-sozialistischer Seite keinerlei
Anstrengungen zu einer Reanimierung unternommen wurden. Die kurze Ära des VUS,
die so hoffnungsvoll am 8. November 1891 eingeläutet wurde, endete im April 1894
20 Der Sozialist. Organ aller Revolutionäre, 4. Jg., Nr. 1 vom 6. Januar.
21 Der Sozialist. Organ deutscher Anarchisten, 5. Jg., Nr. 2 vom 12. Januar 1895.