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100 Jahre Frauenstudium an der Universität Tübingen

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1955 Beginn des Hochschulausbaus in Deutschl<strong>an</strong>d.<br />

An <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Tübingen</strong> steigt die Zahl <strong>der</strong><br />

Studierenden zwischen 1955 und 1960 von<br />

5.562 auf fast 8.000, d.h. um 44 %, <strong>an</strong>.<br />

1959 Der Deutsche Ausschuss für das Erziehungsund<br />

Bildungswesen in <strong>der</strong> BRD legt den „Rahmenpl<strong>an</strong><br />

zur Umgestaltung und Vereinheitlichung<br />

des allgemein bildenden öffentlichen<br />

Schulwesens“ vor.<br />

1960 Der Wissenschaftsrat spricht sich in seinen<br />

„Empfehlungen zum Ausbau <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Einrichtungen“ für die Vergrößerung <strong>der</strong><br />

Hochschulkapazitäten aus.<br />

1965 Der damals noch in <strong>Tübingen</strong> lehrende Soziologie-Professor<br />

Ralf Dahrendorf veröffentlicht<br />

sein Buch „Bildung ist Bürgerrecht“, in dem er<br />

einen Mo<strong>der</strong>nitätsrückst<strong>an</strong>d <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft<br />

feststellt und für die Herstellung von<br />

Ch<strong>an</strong>cengleichheit durch eine aktive Bildungspolitik<br />

plädiert.<br />

Der Deutsche Bildungsrat, <strong>der</strong> Vorschläge zur<br />

Bildungsreform entwickeln soll, wird eingerichtet.<br />

1968 Höhepunkt <strong>der</strong> Studentenbewegung, die die<br />

Gesellschaft und die Kultur in Deutschl<strong>an</strong>d<br />

nachhaltig verän<strong>der</strong>t.<br />

1969 Beginn <strong>der</strong> Neuen Frauenbewegung in Deutschl<strong>an</strong>d.<br />

In seiner Regierungserklärung vom Oktober<br />

1969 erklärt Bundesk<strong>an</strong>zler Willy Br<strong>an</strong>dt, dass<br />

seine Regierung Frauen mehr als bisher helfen<br />

will, ihre gleichberechtigte Rolle in Familie, Beruf,<br />

Politik und Gesellschaft zu erfüllen.<br />

1971 Verabschiedung des Bundesausbildungsför<strong>der</strong>ungsgesetzes<br />

(BAföG). Zwei <strong>Jahre</strong> später werden<br />

bereits 44,5 % <strong>der</strong> Studierenden durch das<br />

BAföG geför<strong>der</strong>t.<br />

1976 Das Hochschulrahmengesetz wird verabschiedet.<br />

Es regelt erstmals län<strong>der</strong>übergreifend die<br />

Studienzulassung und die Personalstruktur.<br />

Bildung als Bürgerrecht<br />

Studentinnen nutzen die Öffnung <strong>der</strong> Hochschulen<br />

„Bei den Mädchen (...) begegnen wir zugleich einer<br />

dritten Facette des Traditionalismus, <strong>der</strong> die<br />

Ausübung von Bürgerrechten begrenzt. Hier ist<br />

es das Fortwirken des sozialen Rollenbildes <strong>der</strong><br />

Frau, das dieser die eigene Entfaltung in Bildung<br />

und Beruf verbietet und die Konzentration auf den<br />

Umkreis <strong>der</strong> häuslichen und familiären Pflichten<br />

nahe legt. Das ist ein einfältiges Bild, aber auch<br />

eines, dessen Wirkung nach wie vor so groß ist,<br />

dass sogar die Betroffenen es in allen wesentlichen<br />

Zügen protestlos übernehmen.“<br />

Ralf Dahrendorf in „Bildung ist Bürgerrecht“, 1965<br />

„Ich wollte studieren, aber ob ich das schaffe, wusste ich<br />

natürlich nicht. Ich war die erste aus <strong>der</strong> Familie, die überhaupt<br />

Abitur gemacht hat und ich konnte von meinen Eltern<br />

gar keine Hilfe erwarten, was es überhaupt heißt, zu<br />

studieren. Wenn ich mir das jetzt im Nachhinein überlege,<br />

war ich sehr mutig o<strong>der</strong> risikofreudig, denn bevor ich in<br />

<strong>Tübingen</strong> war, hatte ich noch nie eine Uni von innen o<strong>der</strong><br />

außen gesehen.“<br />

Martina Grupe, ehemalige Studentin <strong>der</strong> <strong>Universität</strong><br />

<strong>Tübingen</strong> und heutige Schulleiterin des Höl<strong>der</strong>lin-Gymnasiums<br />

Stuttgart (ehemals Stuttgarter Mädchengymnasium)<br />

„Aber bei den Germ<strong>an</strong>isten damals im Hegelbau, da hab ich<br />

den Mund nicht aufgekriegt. Die haben im Seminar geredet,<br />

als wüssten sie sowieso schon alles (...) So hab ich halt<br />

den Mund gehalten und versucht, rasend intelligent auszusehen.(...)<br />

Ich hatte einfach immer das Gefühl von Bluff,<br />

viel mehr als die männlichen Studenten im Seminar, die<br />

waren ja immer so ernsthaft von sich überzeugt, also das<br />

ging mir total ab.“<br />

Eine Tübinger Studentin Anf<strong>an</strong>g <strong>der</strong> 60er <strong>Jahre</strong><br />

Vollbesetzte<br />

Vorlesung im<br />

Chemischen Institut<br />

um 1960<br />

Die Debatte um Ch<strong>an</strong>cengleichheit<br />

Nach <strong>der</strong> eher verhaltenen Entwicklung des <strong>Frauenstudium</strong>s<br />

in <strong>der</strong> Nachkriegszeit bot die in Deutschl<strong>an</strong>d<br />

Ende <strong>der</strong> 50er <strong>Jahre</strong> beginnende Bildungsexp<strong>an</strong>sion<br />

den Frauen eine neue Ch<strong>an</strong>ce. Angesichts des ökonomischen<br />

Aufschwungs Anf<strong>an</strong>g <strong>der</strong> 50er <strong>Jahre</strong> galt<br />

es, neue Bildungsreserven zu erschließen. Dies führte<br />

in den 60er und 70er <strong>Jahre</strong>n zu einer politischen<br />

Debatte um Ch<strong>an</strong>cengleichheit im Bildungswesen. Unter<br />

Bildungsforschern und Politikern best<strong>an</strong>d Konsens<br />

darüber, dass hinsichtlich <strong>der</strong> Bildung eine leistungsunabhängige<br />

und somit illegitime Auslese nach sozialer<br />

Herkunft und Geschlecht stattf<strong>an</strong>d. M<strong>an</strong> sprach von<br />

<strong>der</strong> deutschen „Bildungskatastrophe“. Ch<strong>an</strong>cengleichheit<br />

unabhängig von sozialer Herkunft und Geschlecht<br />

wurde zum politischen Ziel erklärt. “Bildung als Bürgerrecht“<br />

wurde zum Schlagwort <strong>der</strong> Debatte.<br />

Ausbau <strong>der</strong> <strong>Universität</strong>en<br />

Der Anstieg <strong>der</strong> Studierendenzahlen beg<strong>an</strong>n bereits<br />

Ende <strong>der</strong> 50er <strong>Jahre</strong>. Der zweite drastische Anstieg<br />

vollzog sich d<strong>an</strong>n ab Anf<strong>an</strong>g <strong>der</strong> 70er <strong>Jahre</strong>. Zwischen<br />

1970 und 1980 verdoppelte sich <strong>an</strong> <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Tübingen</strong><br />

die Zahl <strong>der</strong> Studierenden nahezu von 11.979<br />

auf 20.103. Der Frauen<strong>an</strong>teil stieg von 29,2% auf<br />

37,8%. Studentinnen profitierten von <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Debatte um die Ch<strong>an</strong>cengleichheit und von <strong>der</strong><br />

Einführung des BAföG. In nur neun <strong>Jahre</strong>n (1973 -<br />

1982) stieg <strong>der</strong> Studentinnen<strong>an</strong>teil <strong>an</strong> <strong>der</strong> <strong>Universität</strong><br />

<strong>Tübingen</strong> von 30% auf 40%. Zum Vergleich: Der Anstieg<br />

von 20% auf 30 % hatte 25 <strong>Jahre</strong> (von 1948-<br />

1973) gedauert.<br />

Frauen zwischen Tradition und Em<strong>an</strong>zipation<br />

Das Frauenbild <strong>der</strong> 60er und 70er <strong>Jahre</strong> war wi<strong>der</strong>sprüchlich.<br />

Einerseits wurde Bildung und Berufstätigkeit<br />

für Frauen immer selbstverständlicher. Die Neue<br />

Frauenbewegung for<strong>der</strong>te gleiche Rechte für Frauen<br />

und Männer und stellte das traditionelle Frauenbild in<br />

Frage. Gleichzeitig existierte aber noch immer das Ideal<br />

<strong>der</strong> Hausfrau und Familienmutter, die ihren Beruf -<br />

o<strong>der</strong> ihr Studium - selbstverständlich mit <strong>der</strong> Heirat o<strong>der</strong><br />

spätestens mit Geburt des ersten Kindes aufgibt. Auch<br />

sollte die Frau dem M<strong>an</strong>n keinesfalls beruflich Konkurrenz<br />

machen. An <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> vermittelten die<br />

von Männern geprägten Strukturen Studentinnen oft<br />

das Gefühl <strong>der</strong> Nichtzugehörigkeit. Dies alles hin<strong>der</strong>te<br />

Frauen aber nicht dar<strong>an</strong>, sich immer häufiger für ein<br />

Studium zu entscheiden.<br />

Aufbruch <strong>der</strong> Frauen<br />

Niemals zuvor und niemals d<strong>an</strong>ach sollte die Zahl <strong>der</strong><br />

Studentinnen <strong>an</strong> <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Tübingen</strong> so stark<br />

<strong>an</strong>steigen wie in den 70er <strong>Jahre</strong>n. Die Debatte um<br />

Ch<strong>an</strong>cengleichheit, die Bildungsexp<strong>an</strong>sion und die reformerischen<br />

gesellschaftlichen Kräfte, die die 68er-<br />

Bewegung und die Neue Frauenbewegung ausgelöst<br />

hatten, schufen ein Klima des Aufbruchs, das Frauen<br />

in nie gek<strong>an</strong>nter Weise nutzen konnten.<br />

1957 Der „Gehorsamsparagraph“ § 1354 des BGB wird gestrichen. Der Ehem<strong>an</strong>n hat nun nicht mehr die alleinige Entscheidungsmacht in ehelichen Angelegenheiten. Bis 1977<br />

k<strong>an</strong>n jedoch ein Ehem<strong>an</strong>n seiner Frau die Erwerbstätigkeit verbieten, wenn er dies für unvereinbar mit ihren Pflichten im Haushalt hält.<br />

1967 Der Studentinnen<strong>an</strong>teil in Deutschl<strong>an</strong>d liegt mit 24% am niedrigsten im Vergleich zu allen <strong>an</strong><strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Spitzenreiter<br />

ist Fr<strong>an</strong>kreich mit 42% Studentinnen.

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