Johann Gottfried Herder. Versuch einer Biografie. - Robert Matthees ...
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“Unverkennbar ist dies der Geist des Christentums, seine native Gestalt und Art. Nur<br />
dunkle barbarische Zeiten haben den großen Landesherren des Bösen, dessen<br />
angeborenes Erbvolk wir seien, von dem uns Gebräuche, Büßungen und Geschenke<br />
zwar nicht wirklich, aber gewandsweise befreien könnten, der Stupidität und<br />
Brutalität antichristlich wiedergegeben.“ [...]<br />
“Wo Böses ist, ist die Ursache des Bösen Unart unseres Geschlechts, nicht seine<br />
Natur und Art. Trägheit, Vermessenheit, Stolz, Irrtum, Hartsinn, Leichtsinn, Vorurteile,<br />
böse Erziehung, böse Gewohnheit, lauter Übel, die vermeidlich oder heilbar sind,<br />
wenn neues Leben, Munterkeit zum Guten, Vernunft, Bescheidenheit, Billigkeit,<br />
Wahrheit, eine bessere Erziehung, bessere Gewohnheiten von Jugend auf, einzeln<br />
und allgemein, einkehren. Die Menschheit ruft und seufzt, daß dies geschehe, da<br />
offenbar jede Untugend und Untauglichkeit sich selbst straft, indem sie keinen<br />
wahren Genuß gewährt und eine Menge Übel auf sich und auf andere häuft“. [...]<br />
“Scheinwahrheiten, starres Vorurteil, heuchelnde Lüge, träge Lust, vernunftlose<br />
Willkür verwirren unser Geschlecht“. [...] “Einheit unserer Kräfte also, Vereinigung<br />
der Kräfte mehrerer zur Beförderung eines Ganzen im Wohl aller - mich dünkt, dies<br />
ist das Problem, das uns am Herzen liegen sollte, weil jedem es sein innerstes<br />
Bewusstsein, wie sein Bedürfnis stille und laut sagt.“ [...] “Die Anmaßung, der Geiz,<br />
die Weichlichkeit, die alle Weltteile betrügt und verwüstet, haben ihren Sitz bei und in<br />
uns, es ist dieselbe Herzlosigkeit, die Europa wie Amerika unter dem Joch hält.<br />
Dagegen auch jede gute Empfindung und Übung eines Menschen auf alle Weltteile<br />
wirkt. Die Tendenz der Menschennatur faßt ein Universum in sich, dessen Aufschrift<br />
ist: 'K<strong>einer</strong> für sich allein, jeder für alle, so seid Ihr alle euch wert und glücklich!' Eine<br />
unendliche Verschiedenheit, zu <strong>einer</strong> Einheit strebend, die in allen liegt, die alle<br />
fördert. Sie heißt, ich will's immer wieder wiederholen, Verstand, Billigkeit, Güte,<br />
Gefühl der Menschheit."<br />
“Wenn alles das Wahn ist“, berichtete der Prediger des weiteren, “was wir ohne<br />
deutliche Gründe auf guten Glauben annehmen, so ist der größteste Teil unsrer<br />
Erfahrungen, unsrer frühgelernten Kenntnisse, unsrer früherworbenen Gewohnheiten<br />
und Neigungen auf Wahn gegründet. Sie beruhen entweder dem Zeugnis unsrer<br />
Sinne oder anderer Menschen, denen wir glauben, die wir unvermerkt, uns selbst<br />
unbewußt, annahmen, endlich am meisten auf unsrer Bequemlichkeit und<br />
Disposition, lieber so als anders zu handeln. So befestigt sich in uns allmählich eine<br />
Gedenk-, eine Handlungsweise, deren Ursprung in einzelnen Fällen wir selten<br />
erforschen mögen. Nur wenigen sehr hellen und reinen Seelen ist’s gegeben, über die<br />
wichtigsten Striche ihrer Denkart sich unparteiisch zu prüfen, Wahrheit und Irrtum,<br />
Vorurteil und Gewißheit in ihnen strenge zu unterscheiden und sodann dem<br />
unschuldigen oder gar notwendigen Wahn zwar sein Gebiet zu lassen, mitnichten ihn<br />
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