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Zeitlos – unvergänglich – unübertroffen - ChorPfalz online

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Seite 100 <strong>ChorPfalz</strong> September/Oktober 2008<br />

Volkslieder bilden keinen ehernen<br />

Kanon. Manche verschwinden für<br />

Jahrzehnte und tauchen taufrisch<br />

wieder auf. Andere bleiben über<br />

Generationen im allgemeinen<br />

Gedächtnis und überstrahlen die<br />

Namen ihrer Schöpfer. Unter den<br />

Komponisten und Dichtern der<br />

großen Evergreens finden sich<br />

fast alle großen Namen: Goethe,<br />

Eichendorff, Mozart, Schubert<br />

oder Brahms. Stil und Takt spielen<br />

Nebenrollen. Volkstümlich wird,<br />

worin sich Menschen wiederfinden<br />

können. Die beliebtesten<br />

Lieder gehen allen ins Herz,<br />

unabhängig von Status, Bildung<br />

und Herkunft. Sie handeln von<br />

Liebe und Trauer, Sehnsucht und<br />

Hoffnung, Freude und Leid, Sonne,<br />

Mond und Sternen.<br />

Wir können ja jetzt nicht miteinander<br />

singen, Sie und ich. Ich<br />

weiß nicht, wo Sie sich gerade<br />

aufhalten, wenn Sie diesen Text<br />

lesen. Sind Sie allein? Sitzen Sie<br />

in der Bahn oder liegen Sie im<br />

Freibad? Wenn Sie jetzt beginnen<br />

würden, leise vor sich hin<br />

zu summen, würde sich jemand<br />

umdrehen und Sie erstaunt anblicken?<br />

Oder wenn Sie gar lauthals<br />

sängen - zum Beispiel: „Die<br />

Gedanken sind frei, wer kann sie<br />

erraten“ -, was würde geschehen?<br />

Würde jemand einfallen in Ihren<br />

Gesang? Peinlich, schon alleine<br />

die Vorstellung? Dann doch lieber<br />

den MP3-Player anwerfen, die<br />

Earphones einstöpseln, sich Verdi<br />

reinziehen oder Mozart, Sido und<br />

Bushido, Hip-Hop, Heavy Metal.<br />

Oder vielleicht ein Volkslied?<br />

Es gibt kulturelle Phänomene, die<br />

mehr als andere verraten, dass<br />

sich die Zeiten geändert haben.<br />

Relikte, Überbleibsel aus Epochen,<br />

in denen man selbst aktiv werden<br />

musste, wenn man sich die Zeit<br />

vertreiben wollte. Die historischen<br />

Volkslieder zählen dazu.<br />

Da saßen sie abends unter den<br />

Linden, die Leute aus dem Dorf.<br />

Es dämmerte, das Tagwerk war<br />

vollbracht. Der Tischler wollte<br />

nicht über Hobelspäne reden und<br />

die Bäuerin nicht über die geronnene<br />

Milch. Und zum zwanzigsten<br />

Mal die Geschichten des<br />

Arnd Brummer<br />

Freie Gedanken und<br />

ein Lied vom Mond<br />

Onkels hören, wie er selbigesmal<br />

beim Holzmachen von den Wildschweinen<br />

gejagt wurde, wollte<br />

auch keiner. Nur gut, dass Hedwig<br />

in diesem Augenblick glockenhell<br />

zu singen begann: „Kein schöner<br />

Land in dieser Zeit als hier das<br />

unsre weit und breit, wo wir uns<br />

finden wohl unter Linden zur<br />

Abendzeit.“ Den Text kannten<br />

alle. Der Tischler brummte mit,<br />

die Bäuerin stimmte in warmem<br />

Alt ein. „Jetzt, Brüder, eine gute<br />

Nacht…“<br />

Es stimmt, dass die Menschen<br />

früher zusammen mehr sangen<br />

und viele Lieder auswendig<br />

wussten. Dass sie dies als etwas<br />

Besonderes betrachtet hätten,<br />

gehört ins Reich sozialromantischer<br />

Legenden. Das Auswendigkönnen<br />

und Selbersingen<br />

war schlicht und einfach eine<br />

der besten Möglichkeiten, Langeweile<br />

zu vertreiben. Und dass<br />

dies in dörflicher und häuslicher<br />

Gemeinschaft geschah, war der<br />

mangelnden Mobilität geschuldet.<br />

Manche begabte Sängerin<br />

wird es als wenig idyllisch erlebt<br />

haben, wenn sie mit denen<br />

abends singen musste, mit denen<br />

sie tagsüber Kartoffeln geerntet<br />

oder Wäsche gewaschen hatte.<br />

Es war halt so.<br />

Wenn einmal in vielen Wochen<br />

der Leierkastenmann oder ein<br />

anderer fahrender Gesell ins<br />

Dorf kam und ein neues Lied<br />

mitbrachte, war das die lang<br />

ersehnte Abwechslung im alltäglichen<br />

Einerlei. Wer den Hit<br />

komponiert oder getextet hatte,<br />

wusste der fahrende Sänger<br />

meist nicht. Er hatte ihn selbst<br />

irgendwo aufgeschnappt, seinen<br />

musikalischen Möglichkeiten<br />

angepasst, also umgetextet oder<br />

melodiös vereinfacht.<br />

Als im ersten Drittel des 20.<br />

Jahrhunderts Radio und Schallplatte<br />

aufkamen, im zweiten<br />

schließlich das Fernsehen, versammelten<br />

sich die Familien<br />

mit dem Gefühl der Befreiung<br />

um die Geräte. An die Stelle<br />

regionaler Sangesbräuche trat<br />

die universale Hitmaschine. Wer<br />

recht in Freude wandern wollte<br />

oder die Mühle am rauschenden<br />

Bach klappern hörte, galt bald<br />

als liebenswürdig überständig.<br />

Und dass die deutschtümelnden<br />

NS-Propagandisten im deutschen<br />

Lied ein völkisches Erbe<br />

erblickten, trug zum Niedergang<br />

desselben das Seine bei. Wer mit<br />

der Zeit gehen wollte, sang „Let<br />

it be“ oder grüßte „See you later,<br />

Alligator“, anstatt die Vogelhochzeit<br />

zu besingen.<br />

Dieser zugegeben brachiale Ritt<br />

durch die jüngere Musikgeschichte<br />

beschreibt ein wenig<br />

verkürzt, wie wir dahin gekommen<br />

sind, wo wir sind. Er ist<br />

weder Demonstration eines wehleidigen<br />

Kulturpessimismus noch<br />

Ausdruck geschichtsvergessener<br />

Fortschrittseuphorie. Er illustriert,<br />

dass die Tradition (auf deutsch:<br />

Übermittlung) des Volksliedes zu<br />

einem schmalen Rinnsal geworden<br />

ist, alleine noch unterhalten<br />

von einer Handvoll Popsängern,<br />

die je nach Zielgruppe die eher<br />

demokratischen oder heimeligen<br />

Inhalte präsentierten, sowie von<br />

Pfadfinderliederbüchern wie<br />

„Mundorgel“ und „Kilometerstein“,<br />

in der die eiserne Ration<br />

des Liedgutes in immer kleinere<br />

Kreise weitergereicht wurde. Die<br />

historischen Volkslieder, hinter<br />

denen die Namen von großen<br />

Poeten wie Heinrich Heine oder<br />

Matthias Claudius stecken, verschwinden<br />

im lauten Stimmengewirr<br />

der allgegenwärtigen<br />

U-Musik.<br />

Und das genau ist die Chance,<br />

die Volkslieder in ihrem Wert und<br />

Gehalt neu zu entdecken. Indem<br />

„Der Mai ist gekommen“ oder das<br />

„Heideröslein“ aufgehört haben,<br />

populäre Gebrauchslieder zu sein,<br />

finden Texte und Melodien die<br />

Aufmerksamkeit einer Generation,<br />

die in ihnen die Kraft und Energie<br />

großer Kunst erleben kann,<br />

gerade weil sie nicht mehr alltäglich<br />

verfügbar sind. Friedrich<br />

Silchers „Ännchen von Tharau“<br />

oder „Guten Abend, gute Nacht“<br />

von Johannes Brahms entpuppen<br />

sich als große Kunst. Sie teilen<br />

das Schicksal von Möbeln, die<br />

deshalb zu teuer gehandelten<br />

und liebevoll restaurierten Raritäten<br />

und Antiquitäten werden<br />

konnten,weil sie der trivialen<br />

alltäglichen Benutzung entwachsen<br />

sind.<br />

Ihre Qualität steckt in der Erkenntnis,<br />

dass sie überstanden,<br />

weil sie auch modernen Ohren<br />

und Gehirnen noch etwas zu<br />

sagen haben. Sie haben sich von<br />

ihrem Zweck emanzipiert. Die<br />

Worte und Weisen bekommen<br />

einen neuen Sinn, weil sie für<br />

Menschen getextet und komponiert<br />

sind und nicht für Soundmaschinen.<br />

Jede und jeder kann

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