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Freunde und Feinde

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Frau Dr. Zehner [... die Blätter haben jeweils die Kopfzeilen: „Gesprächskreis Hoffnung St. Nikolai<br />

Zeugnis der Betroffenheit“]:<br />

Irgendwann habe ich begriffen, daß es über meine Kräfte geht, weiter das mitzumachen, was man „Weg<br />

zum Sozialismus“ nennt. Und so manches möchte ich da auch nicht mitverantworten.<br />

Es werden durch den Totalitätsanspruch der marxistisch-leninist[ischen] Weltanschauung in allen<br />

gesellschaftlichen Bereichen, vor allem aber im Bildungswesen, ständig Bekenntnisse <strong>und</strong><br />

Verpflichtungen verlangt, hinter denen der Einzelne [sic!] oft gar nicht steht. So erfolgt eine Erziehung zu<br />

Heuchelei, zu Denken <strong>und</strong> Handeln in vorgeschriebenen Bahnen. Das administrierend-verfügende<br />

Regiment von Partei <strong>und</strong> Staat mit einem Informationssystem, das in seiner Ideologieabhängigkeit nur die<br />

Fakten durchläßt, die in seine Richtung passen, führt zu Spannungen zwischen Regierenden <strong>und</strong><br />

Regierten. Es hat sich ein Gemisch aus Apathie, organisierter Verantwortungslosigkeit, Tabuisierung <strong>und</strong><br />

Verleugnung von Problemen ergeben. Eine gesellschaftliche Partizipation ist nicht erwünscht, es wird den<br />

Menschen lediglich die Rolle zustimmenden Mittuns, nicht aber die kritische Partnerschaft eingeräumt.<br />

Mündigkeit wird außerdem gehindert durch ein weit verbreitetes Gefühl der Angst <strong>und</strong> die andauernde<br />

Erfolglosigkeit eigener Bemühungen entmutigt. Das führt zu einer Resignation, aus der ich nicht<br />

herausfinden kann. Meinte ich anfangs noch, Wellenbrecher <strong>und</strong> Gegenpol sein zu müssen, wollte ich<br />

später doch wenigstens in einem begrenzten Bereich Einfluß ausüben. Schließlich nur noch <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong><br />

tragen. Alles mündete im Rückzug auf den privaten Bereich. Ich bin nicht der Typ, der sich mit einer<br />

Fahne, welcher auch immer, auf die Straße stellt. Ich organisiere auch keine Untergr<strong>und</strong>bewegung oder<br />

halte Staatsmaschinerien auf. Ich möchte das sagen <strong>und</strong> tun können, was ich für richtig halte. Ich möchte<br />

keinem anderen Menschen Schaden zufügen <strong>und</strong> suche einen Einklang zwischen mir <strong>und</strong> meinem<br />

Lebensraum. Leben heißt auch Veränderung!<br />

Herr Kunze [... s.o.]: Einige Gedanken: Ich glaube, in der DDR wird zuviel Für- <strong>und</strong> Vorsorge an der<br />

falschen Stelle getrieben. Der Glücksanspruch des einzelnen bleibt auf der Strecke. Mit materieller<br />

Sicherheit, mit Arbeitsplatz <strong>und</strong> Lehrstelle für jeden, mit preiswerten Wohnungen, Straßenbahn <strong>und</strong> Brot<br />

für Pfennige allein ist der Mensch kaum zufriedenzustellen...<br />

Das administrierte Glück für alle hat nicht nur einen faden Beigeschmack, sondern produziert auch<br />

apathische Unzufriedenheit.<br />

Frau Kreyßig [... s.o.]: Einige Gedanken: Für mich ist Sozialismus eine Staatsform, die mit großem<br />

Anspruch angetreten ist, jetzt aber immer mehr erstarrt. Ich kann nicht mehr an ihre Zukunftsträchtigkeit<br />

glauben. Bedauerlich ist, daß der Praxis mehr <strong>und</strong> mehr die Idee verloren geht.<br />

Kommunistisches Ethos <strong>und</strong> christliches hatten viel gemeinsam. Als Erlöser nicht Jesus, sondern die<br />

Arbeiter. Und die sollen das Himmelreich schon auf Erden errichten. Bloß, was errichten sie wirklich? ...<br />

Es wachsen mit: Gleichheit, Gleichmacherei <strong>und</strong> Gleichgültigkeit. Woher soll die Motivation kommen?<br />

Mit Menschen ist das nicht zu machen! ... Obwohl Sozialismus Materialismus lehrt, fordert er unentwegt<br />

Idealismus.<br />

[Pf. Führer:] Ich selbst möchte noch eine Betroffenheit hinzufügen. Was Christoph Hein in seinem Roman<br />

„Horns Ende“ beschreibt, läßt sich in Variationen auch heute erfahren. Ich hörte vor 14 Tagen von einem<br />

Gewi-Lehrer 415 <strong>und</strong> Genossen, 59 Jahre alt. Es ist mit seiner Frau von einer BRD-Reise nicht<br />

zurückgekehrt, ist „drüben“ geblieben. Nun, da beginnen die Gedanken zu laufen. Da hat der Mann den<br />

Schülern jahrelang den Sozialismus verkündet in der bekannten Art <strong>und</strong> Weise. Da hat der Mann<br />

jahrelang christlichen Kindern das Leben schwergemacht. Und nun sieht er in der BRD seiner gesicherten<br />

Beamtenpension in DM-West, versteht sich, entgegen. Wie viele solche Menschen leben noch unter uns?<br />

Wie viele solcher Menschen mögen heute noch den Sozialismus <strong>und</strong> die Vorteile <strong>und</strong> Zukunftsträchtigkeit<br />

dieses Systems dozieren, um bei günstiger Gelegenheit die Früchte des dem Untergang geweihten<br />

Kapitalismus zu genießen?<br />

Wahrscheinlich hat jeder von uns irgendwo ein Gefühl der Betroffenheit. Sei es an einer der<br />

angesprochenen oder anderen Stellen. Viele von uns leben mit der geheimen Last auf der Seele. Wie man<br />

sich da fühlt, beschreibt Aitmatow in der „Richtstatt“ (S. 95): „Wie groß die Erde auch sein mag, wie<br />

schön neue Eindrücke sein mögen - alles ist nichts wert <strong>und</strong> gibt weder dem Verstand noch dem Herzen<br />

415 Lehrer der „Gesellschaftswissenschaften“, d.h. des Marxismus-Leninismus<br />

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