Gewalt und Zwang in der stationären Psychiatrie - Aktion Psychisch ...
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8. Unterschiedliche Formen psychiatrischer <strong>Gewalt</strong> stehen <strong>in</strong> Wechselwirkung<br />
untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />
Die Dynamik e<strong>in</strong>es sozialen Systems im H<strong>in</strong>blick auf se<strong>in</strong> <strong>Gewalt</strong>potential ist<br />
– auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Psychiatrie</strong> – oft symmetrisch. D. h., es kommt zur Eskalation<br />
durch fortgesetzte positive Feedbackschleifen nach dem Muster: <strong>Gewalt</strong> provoziert<br />
Gegengewalt <strong>und</strong> so fort. Symmetrische Eskalationsprozesse s<strong>in</strong>d<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich e<strong>in</strong> Zeichen dafür, daß auf <strong>der</strong> Station/im Team etwas nicht<br />
stimmt (z.B. Überfor<strong>der</strong>ung, fehlende Struktur, ungünstige personelle Konstellation).<br />
E<strong>in</strong> qualifizierter Umgang mit dem <strong>Gewalt</strong>potential <strong>in</strong> psychiatrischen<br />
Sozialsystemen ist dagegen primär komplementärer Art. Das bedeutet,<br />
daß auf drohende o<strong>der</strong> tatsächliche <strong>Gewalt</strong> deeskalierend, also nach dem<br />
Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> negativen Rückkoppelung reagiert wird. Von verschiedenen Autoren<br />
werden Handlungsstrategien o<strong>der</strong> Handwerksregeln für die komplementäre<br />
Interaktion <strong>in</strong> „brenzligen“ Situationen vorgeschlagen (z.B. DÖRNER 1986,<br />
HUBSCHMID 1991).<br />
Bei dem Versuch, e<strong>in</strong> System (z.B. e<strong>in</strong>e Station, e<strong>in</strong>e Kl<strong>in</strong>ik) als Ganzes darauf<br />
auszurichten, komplementär-deeskalierend auf das <strong>Gewalt</strong>potential <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeit<br />
mit psychisch kranken Menschen umzugehen, s<strong>in</strong>d die Wechselbeziehungen<br />
zwischen verschiedenen Handlungsweisen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Folgen zu beachten:<br />
Die Reduktion von <strong>Gewalt</strong>anteilen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Teil des Systems kann zu e<strong>in</strong>er<br />
Erhöhung solcher Anteile <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Teilen des Systems führen. So kann<br />
z.B. die Öffnung geschlossener Stationstüren bewirken, daß Patient<strong>in</strong>nen <strong>und</strong><br />
Patienten häufiger isoliert o<strong>der</strong> fixiert werden; die Reduzierung <strong>der</strong> Häufigkeit<br />
<strong>und</strong> Dauer von Fixierungen kann erkauft werden durch e<strong>in</strong>en steigenden Verbrauch<br />
von sedierenden Medikamenten; die permanente 1:1 Betreuung e<strong>in</strong>er<br />
zur Selbstverletzung neigenden Patient<strong>in</strong> verletzt <strong>der</strong>en Privatheit <strong>und</strong> Intimsphäre<br />
usw. O<strong>der</strong>: Die humane <strong>und</strong> freizügige Behandlung <strong>der</strong> Mehrheit führt<br />
zum Ausschluß e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Gruppe extrem gewalttätiger bzw. gewaltauslösen<strong>der</strong><br />
Patienten, ihre Verweisung an „Speziale<strong>in</strong>richtungen“ <strong>und</strong> damit quasi<br />
zum Export von <strong>Gewalt</strong>tätigkeit: „Man kann beobachten, daß <strong>in</strong> reformorientierten<br />
Institutionen (potentiell o<strong>der</strong> manifest) gewalttätige Patienten oft ke<strong>in</strong>e<br />
angemessene Behandlung f<strong>in</strong>den <strong>und</strong> Gefahr laufen, ausgegrenzt zu werden<br />
– durch Verlegung, sog. diszipl<strong>in</strong>arische Entlassung o<strong>der</strong> Überantwortung an<br />
Polizei <strong>und</strong> Justiz. Liberalisierung stationär-psychiatrischer E<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong><br />
Verschiebung Schwerstgestörter <strong>in</strong> den Maßregelvollzug sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
zu ergänzen“ (ZEILER 1993, S. 130).<br />
In Anlehnung an das Pr<strong>in</strong>zip von <strong>der</strong> Erhaltung <strong>der</strong> Energie könnte man formulieren:<br />
Innerhalb e<strong>in</strong>es psychiatrischen Systems ist die Summe <strong>der</strong> gewaltsamen<br />
Anteile konstant. Dieser Satz gilt – hoffentlich – nur für den Grenzfall, daß<br />
die <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong>nerhalb des Systems bereits auf das unerläßliche M<strong>in</strong>imum reduziert<br />
werden konnte. Je mehr wir uns dieser Grenze jedoch annähern, desto<br />
aufmerksamer müssen wir die Dynamik von Austausch- <strong>und</strong> Wechselwirkungsprozessen<br />
zwischen den Folgen unserer Handlungen beobachten, um nicht<br />
Sche<strong>in</strong>erfolgen aufzusitzen.<br />
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