Landschaften in Deutschland 2030 Erlittener Wandel – gestalteter ...
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Ludwig Fischer Wir machen <strong>Landschaften</strong>, die wir eigentlich gar nicht wollen<br />
Landschaftsveränderungen und viele andere Unzumutbarkeiten von ‚den Mächtigen‘ nicht<br />
betrieben werden.<br />
„Wie kommen wir als E<strong>in</strong>zelne zu e<strong>in</strong>em ‚Wir‘ zusammen, [dessen Handeln] dann ganz an‐<br />
dere Effekte hat als die Folgen der e<strong>in</strong>zelnen Handlung? Ist dieses ‚Wir‘ die biologische Gat‐<br />
tung oder s<strong>in</strong>d es die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kulturellen Lebensform verbundenen Individuen mit bestimm‐<br />
ten Gewohnheiten? Es gibt ke<strong>in</strong>en Repräsentanten unseres ‚Wir‘, der sich e<strong>in</strong>fach mit<br />
moralischen Appellen adressieren ließe. Wo wäre diese Steuerungszentrale unserer Lebens‐<br />
form? Weil wir sie nicht kennen, denken wir, dass wir uns nur ‚alle‘ als E<strong>in</strong>zelne ändern müs‐<br />
sen. Doch es könnte ja se<strong>in</strong>, dass wir das denken, weil wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lebensform existieren, die<br />
<strong>in</strong> uns die Idee e<strong>in</strong>er unbegrenzten Macht der e<strong>in</strong>zelnen Person erzeugt hat.“ 19<br />
Ist es also vertretbar, weiterh<strong>in</strong> von e<strong>in</strong>em ‚Wir‘ zu sprechen, so wie ich es <strong>in</strong> diesem Vortrag<br />
getan habe? Kann man, im Nachhall e<strong>in</strong>er Denkfigur der materialistischen Theorie, e<strong>in</strong> kollek‐<br />
tives Subjekt der Geschichte als ‚reale Utopie‘ postulieren, wie es Ernst Bloch entworfen hat?<br />
Wie kommen solche kulturellen Veränderungen über Generationen h<strong>in</strong>weg zustande, wie sie<br />
Norbert Elias <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Studien zum ‚Prozess der Zivilisation‘ 20 beschrieben hat? Sollen wir, <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er vielleicht hilflosen Weise, denn doch von der ‚Initialfunktion‘ ausgehen, die das Denken<br />
und Handeln E<strong>in</strong>zelner für den <strong>Wandel</strong> e<strong>in</strong>es ‚irgendwie‘ sich bildenden kollektiven Be‐<br />
wusstse<strong>in</strong>s hat? Und wie bildet sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen kollektiven Bewusstse<strong>in</strong> die Wahrneh‐<br />
mung, dass ‚alle zusammen‘ e<strong>in</strong>e Realität herstellen, die sie als E<strong>in</strong>zelne so gar nicht wollen?<br />
Muss man, um e<strong>in</strong>e solche Bewusstse<strong>in</strong>sbildung zu begreifen, das Bild e<strong>in</strong>es kollektiven Leibs<br />
heranziehen, der sich <strong>in</strong> den selbst geschaffenen Umgebungen empf<strong>in</strong>det? „Haben Milliarden<br />
von Menschen auf e<strong>in</strong>em Planeten der Größe ‚unserer‘ Erde e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>samen Leib durch<br />
‚ihre‘ Märkte und kollektiv erzeugten Technologien und so auf andere Weise an der Natur teil<br />
als durch ihren kle<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Leib? […] Ist das Gefühl, geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong> ‚falsches‘ Le‐<br />
ben zu führen, so etwas wie e<strong>in</strong> ‚Schmerz‘ <strong>in</strong> diesem Kollektivleib?“ 21<br />
Solche sozial‐ und geschichtsphilosophischen, ja anthropologischen Fragen lassen sich nicht<br />
schlüssig beantworten. Sie fordern aber auf, vorsichtig mit der Rede vom ‚Wir‘, von ‚unserem‘<br />
Denken, Empf<strong>in</strong>den, Handeln umzugehen. Diese Vorsicht kann sozusagen unterschiedliche<br />
Richtungen haben. E<strong>in</strong>e dieser Richtungen ist für mich die soziale und kulturelle Relativie‐<br />
rung des ‚Wir‘ <strong>–</strong> es me<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der Regel ja zunächst die Angehörigen der so genannten ‚westli‐<br />
chen‘ Kultur. So sehr sie <strong>in</strong>zwischen global dom<strong>in</strong>iert, stellt sie immer noch nur e<strong>in</strong>e unter<br />
vielen Kulturen dar, wie ‚vermischt‘ auch die meisten der Kulturen se<strong>in</strong> mögen. ‚Wir‘ sollten<br />
nicht den Wirtschafts‐ und F<strong>in</strong>anz‐ und Kulturimperialismus ‚unserer‘ Industrieländer da‐<br />
durch bestätigen, dass wir die Angehörigen anderer Kulturen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ‚Wir‘ e<strong>in</strong>fach vere<strong>in</strong>nah‐<br />
men. Entsprechendes gilt für die sozialen Differenzierungen <strong>in</strong> unseren eigenen Gesellschaf‐<br />
ten.<br />
E<strong>in</strong> andere Richtung der Vorsicht weist <strong>in</strong> die Geschichte: Die jetzt vorherrschenden Auffas‐<br />
sungen, Bilder und Erkenntnisse zum Beispiel von ‚der Natur‘ erweisen sich beim histori‐<br />
schen Rückblick als so ‚kurzlebig‘, dass man sich auch hüten sollte, wissenschaftliche E<strong>in</strong>sich‐<br />
ten als ‚objektiv und überzeitlich gültige Wahrheiten über die Natur‘ zu verstehen. Es handelt<br />
sich letztlich um zeit‐ und kulturbed<strong>in</strong>gte Erzählungen von der Natur <strong>–</strong> die ‚wir‘ freilich für<br />
wahr nehmen müssen, um <strong>in</strong> unserer Gegenwart und Kulturform zu leben. Solche Erzählun‐<br />
19 Hampe, Tunguska (wie Anm. 17), S. 298f.<br />
20 Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische<br />
Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp (8. Aufl.) 1981.<br />
21 Hampe, Tunguska (Wie Anm. 17), S, 284f.<br />
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