ZWISCHEN PHILOSOPHIE UND SPIRITISMUS
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I<br />
Wissenschaft(en) im 19. Jahrhundert<br />
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Man assoziiert die Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland mit den Begriffen „Gründerzeit“ für<br />
die Periode der Reichsgründung, die streng genommen mit dem Berliner Börsenkrach 1873 beendet war, und dem<br />
aus dem französischen entlehnten Begriff des Fin de Siècle, mit dem man gemeinhin die Periode ab 18869 bis 1914<br />
beschreibt.<br />
Schaut man sich die kulturschaffenden Bereiche dieser Epoche an, so stößt man unweigerlich auf Momente, die<br />
zwischen Aufbruchsstimmung, Wachstum und Zukunftseuphorie, dem Beginn der Moderne und experimenteller<br />
Neuorientierung einerseits, aber auch diffuser Zukunftsangst und Regression, Endzeitstimmung, Weltschmerz, Faszination<br />
von Tod und Vergänglichkeit, Leichtlebigkeit, Frivolität, Dekadenz und Werteverfall andererseits oszillieren.<br />
Vor allem die Kultur, die Wissenschaft und Philosophie, Musik, Kunst und Literatur wurden in Deutschland im Laufe<br />
des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu einem Schlachtfeld der Weltanschauungen. 10<br />
In der Musik überwand man die tradierte Tonalität, in der bildenden Kunst den akademischen Stil, mit neuer Farbigkeit<br />
und unterschiedlichen Wirkungen von Licht wurde experimentiert. Vor allem in den Wissenschaften konnte<br />
man sehr konkret die Krisen und das daraus neu entstehende Weltbild erfahren.<br />
Schon während des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts übernahmen allmählich die Naturwissenschaften die<br />
Führungsrolle in den gesellschaftlichen Diskursen. Für damalige Zeitgenossen ermöglichten sie es, der „Welt ins<br />
geheime Uhrwerk zu schauen“ 11 und eine ungeheure Anzahl von Rätseln zu lösen, die bis dahin noch immer der<br />
Welt des Aberglaubens und des Geheimen anheim gefallen waren. Die Mathematik erlebte eine Grundlagenkrise,<br />
aus der die moderne Physik der Mengen und Systeme hervor ging. Noch bis vor kurzem beherrschte vor allem die<br />
Naturphilosophie in weiten Teilen die Naturwissenschaft und die Medizin. Die Grundlage der Naturauffassung der<br />
Naturphilosophie beruhte auf der Bevorzugung der Deduktion aus allgemeinen Grundsätzen vor der Induktion aus<br />
der Erfahrung. Um 1850 kam es zu scharfen Angriffen auf die Vorherrschaft der Naturphilosophie. Die als die ‚wahren’<br />
bezeichneten Naturwissenschaftler wendeten sich strikt zu empirischer Einzelforschung hin und grenzten sich<br />
grundsätzlich gegenüber philosophischer Reflexion ab, die überwiegend mit der überwundenen Naturphilosophie<br />
in Zusammenhang gebracht wurde. Eine Abneigung gegen jedwede Spekulation griff um sich. Die mechanistische<br />
Anschauungsweise von Natur und Mensch und ein maschinenartiges Funktionieren als Erklärungsmodell wurden<br />
zeitweilig grundlegend für Naturwissenschaft und -forschung in Deutschland.<br />
Jede neue tonangebende Persönlichkeit suchte mit viel Einsatz und Begeisterung, „in seiner Art dem sterbenden<br />
philosophischen Idealismus seinen Todesstoß zu geben, jegliche Spekulationen zu verketzern und den Weg zu<br />
einem naturgebundenen Materialismus zu ebnen.“ 12 Die Wissenschaften wurden nun beherrscht vom „Primat des<br />
9 Im Jahr 1886 taucht der Begriff ‚fin de siècle‘ das erste Mal in der französischen Zeitung Le Décadente auf.<br />
10 Vgl. Zigman, Peter (Hg.): Einblicke in eine sterbende Ära Das Ende des Mythos der guten alten Zeit. Universitas Comeniana XXXII,<br />
Bratislava 2000: S. 8-10.<br />
11 Zigman 2000: S. 7.<br />
12 Zigman 2000: S. 9.