Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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AKTUELLE ANALYSE<br />
stellen. Ein tiefer greifender Ansatz muß versuchen,<br />
den normativen Kernbestand auf die<br />
Position bzw. den strukturellen Ort zu beziehen,<br />
den die Grünen in der Gesellschaft besetzen.<br />
In dieser Perspektive tritt ein bestimmtes<br />
Set von gesellschaftspolitischen Gestaltungsoptionen<br />
zum Vorschein, das die Grünen normativ<br />
repräsentieren:<br />
(1) In der Kontinuitätslinie der progressiven<br />
Linken stehend (vgl. Markovits/Gorski<br />
1997) vertreten die Grünen die umfassende<br />
Gestaltungsoption einer sozial gerechten<br />
Ordnung. Dieser normative Leitgesichtspunkt<br />
ergibt sich aus der grundlegenden<br />
politischen und moralischen Orientierung<br />
an der Möglichkeit einer gesellschaftlichen<br />
Alternative, die zunächst in der Form<br />
des Bewegungsprotests behauptet wurde<br />
und später in der Formel vom ,Umbau der<br />
Gesellschaft' ihren reformpolitischen Ausdruck<br />
gefunden hat. Die normative Beurteilung<br />
der institutionellen Grundstrukturen<br />
der gesellschaftlichen Ordnung ist -<br />
mit Rawls (1975: 23) gesprochen - der<br />
„erste Gegenstand der Gerechtigkeit".<br />
(2) Die Beschreibung der Grünen als „modernisierungskritische<br />
Modernisierer" (Raschke/Nullmeier<br />
1995: 1205) trifft die paradoxe<br />
Struktur der grünen reformpolitischen<br />
Orientierung hinsichtlich ihrer Gestaltungsoption<br />
einer nachhaltigen Entwicklung.<br />
Dieser für das grüne Projekt zentrale normative<br />
Leitgesichtspunkt ergibt sich aus<br />
der Verarbeitung von Ambivalenzen der gesellschaftlichen<br />
Zeitlichkeit, die mit dem<br />
Ende eines ungebrochenen Fortschrittsmythos<br />
einhergehen. Er zielt darauf ab, im<br />
Gegenwartshandeln der Gesellschaft für<br />
ihre zeitliche Entwicklungsperspektive die<br />
Option der Zukunftsfähigkeit zu eröffnen<br />
und zu erhalten.<br />
(3) Schließlich ergibt sich als dritter normativer<br />
Leitgesichtspunkt die Gestaltungsopti-<br />
JÖRN LAMLA<br />
on einer zivilen politischen Kultur aus dem<br />
strukturellen Ort der Grünen im gesellschaftlichenKommunikationszusammenhang.<br />
Dabei generalisieren die Grünen im<br />
Kern die (kontrafaktische) Option einer gewalt-<br />
und herrschaftsfreien Kommunikation,<br />
die den impliziten Legitimationshintergrund<br />
der politischen und zivilgesellschaftlichen<br />
Lebenspraxisformen, aus denen<br />
sich die Grünen rekrutieren, abgibt<br />
(vgl. Habermas 1988: 579). Diese Option<br />
wird für die Grünen zur Gestaltungsaufgabe<br />
eines reflexiven Demokratieprojekts, in<br />
dem es auf unterschiedlichen sozialen Aggregationsniveaus<br />
um die Ermöglichung<br />
ziviler Formen der politischen Selbstbestimmung<br />
geht.<br />
Diese normativen Leitgesichtspunkte manifestieren<br />
sich in den programmatischen Orientierungen<br />
der grünen Politik mehr oder weniger<br />
deutlich. In den Vorentwürfen für die Präambel<br />
des 98er Bundestagswahlprogramms<br />
taucht mit den drei Leitbildern Nachhaltigkeit,<br />
soziale Gerechtigkeit und Demokratie diese<br />
normative Grundstruktur ebenso auf wie -<br />
wenn auch nicht in ,Reinform' - in dem Zielkatalog,<br />
den Joschka Fischer für seinen ,neuen<br />
Gesellschaftsvertrag' formuliert: „Eine Beantwortung<br />
der neuen sozialen Frage setzt voraus,<br />
daß sie vier gleichrangige strategische Ziele<br />
verfolgt, nämlich wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit,<br />
ökologische Nachhaltigkeit,<br />
soziale Gerechtigkeit und rechtsstaatliche Demokratie"<br />
(Fischer 1998: 166). Im Falle Fischers<br />
ist hierbei vor allem bemerkenswert,<br />
wie er sich mit diesen normativen Leitgesichtspunkten<br />
konfrontiert, obwohl sie für die Grünen<br />
noch massive Klärungs- und Umsetzungsprobleme<br />
aufwerfen, „denn die Ziele dieses<br />
strategischen Vierecks stehen häufig im Widerspruch<br />
zueinander oder schließen sich sogar<br />
aus" (Fischer 1998: 167). Diese balancierende<br />
Haltung gibt einen ersten Hinweis auf