Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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HAUPTBEITRÄGE<br />
und politischer Akteure ebenso nachhaltig herausfordert<br />
wie das Wohl der Mehrheit der Öffentlichkeit,<br />
hat Oberschall (1973: 337f) formuliert:<br />
„The magnitude of casualties will be<br />
greater to the extent that accountability for actions<br />
and casualities produced by the agents of<br />
social control is low and ineffective" - mit der<br />
parteilichen Pointe, daß er die Regeln und Kontrollen<br />
der Gewaltbeschränkung für die staatlichen<br />
Ordnungskräfte für wichtiger erklärt als<br />
die entsprechenden Restriktionen für die Träger<br />
kollektiven Protests und sozialer <strong>Bewegungen</strong>.<br />
Zweitens: Eine weitere differenzierende Beobachtung,<br />
die ebenfalls von einer Reihe einschlägiger<br />
empirischer und theoretischer Arbeiten<br />
geteilt wird, betrifft eine - wie Tilly es<br />
etwas zynisch formuliert - ,division of labor'<br />
hinsichtlich der Anwendung von Gewalt: „Repressive<br />
forces do the largest part of the killing<br />
and wounding, while the groups they are<br />
seeking to control do most of the damage to<br />
objects" (Tilly 1975: 177). Dieser empirische<br />
Befund spiegelt sich in der bekannten Unterscheidung<br />
von Gewalt gegen Sachen und Gewalt<br />
gegen Personen, die in der Diskussion<br />
innerhalb sozialer <strong>Bewegungen</strong> bezüglich der<br />
Legitimation und Rechtfertigung der einzusetzenden<br />
Mittel, genereller der Zweck-Mittel-<br />
Relation immer wieder eine prominente Rolle<br />
spielt.<br />
Drittens: Diese Befunde lassen sich noch weiter<br />
zuspitzen und präzisieren unter dem strategischen<br />
Blickwinkel, den Gewalt für die Aktivitäten<br />
von sozialen <strong>Bewegungen</strong> einnimmt.<br />
Allerdings ist die Forschungslage hier nicht<br />
einheitlich. Eine der bedeutendsten empirischen<br />
Studien stellt die berühmte Untersuchung einer<br />
Zufallsstichprobe von 53 aus mehr als 500<br />
,challenging groups' der USA in der Zeit von<br />
1800 bis 1945 von Gamson (1975) dar. 5<br />
Danach<br />
gibt es durchaus eine Diskrepanz zwi-<br />
REINHARD KREISSL/FRITZ SACK<br />
sehen moralischer Verurteilung von Gewalt und<br />
ihrem empirischen Auftreten. Zwar war Gewalt<br />
nur in 28% der Fälle zu registrieren; bemerkenswert<br />
war zum einen aber der Typus<br />
bzw. Charakter der Gewalt, denn Gewalt war<br />
in vielen Fällen nicht Ausdruck von Frustration<br />
oder Mißerfolg, sondern sie hatte strategisch-instrumentellen<br />
Stellenwert, zum anderen<br />
beantwortet die Studie die Frage „Does<br />
violence pay?" (Gamson 1975: 81f) keineswegs<br />
mit dem geläufigen Stereotyp, daß dies<br />
allgemein, d.h. für die Herausforderer wie die<br />
Herausgeforderten, verneint werden kann: "On<br />
the contrary, those who are unruly have the<br />
most notable success" (Gamson 1975: 141),<br />
wenn auch der Einsatz von Gewalt ebenso sehr<br />
„a symptom of success as a cause" (Gamson<br />
1975: 82) sei. Die Ergebnisse Gamsons sind<br />
differenziert, sie betonen den insgesamt quantitativ<br />
geringen Rückgriff auf Gewalt und vor<br />
allem ihren eher zufälligen, dazutretenden Charakter,<br />
und sie widersprechen auch nicht einer<br />
allgemeinen Feststellung Gurrs über das Verhältnis<br />
zwischen sozialen <strong>Bewegungen</strong> reformistischer<br />
Zielsetzung und dem demokratischen<br />
amerikanischen Staat: „Es stellt eine der<br />
Ironien der Demokratie in Amerika dar: Reformer<br />
waren immer so optimistisch in bezug<br />
auf ihre Erfolgsaussichten, daß sie gewaltsame<br />
Opposition gegen das Establishment zu vermeiden<br />
trachteten, während das Establishment<br />
sich oft [...] so bedroht wähnte, daß Zwang<br />
erforderlich schien" (Gurr 1979: 496).<br />
Viertens: Eine bedeutsame Differenzierung des<br />
Einsatzes oder Vorkommens von Gewalt hängt<br />
mit dem Typus der sozialen Bewegung zusammen.<br />
Im politischen Koordinatensystem unterscheidet<br />
eine Reihe von Forschem <strong>Bewegungen</strong><br />
bzw. kollektive Akteure danach, ob sie auf<br />
politische Reformen oder veränderte politische<br />
Prioritäten aus sind oder ob sie als Verteidiger<br />
bzw. Bewahrer des Status quo auftreten. Letztere<br />
sind defensive <strong>Bewegungen</strong> und entwik-