Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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RESSOURCENMOBILISIERUNG UND GEWALT<br />
Ob die grievances der Protestler ihrem Charakter<br />
nach realer oder eingebildeter Natur, absolut<br />
oder relativ sind, ist unwichtig. Bedeutend<br />
ist, daß sich im allgemeinen mehr Unmut<br />
findet, Mobilisierung aber vergleichsweise selten<br />
stattfindet. Die Menschen können in der<br />
Tat ein großes Ausmaß widriger Umstände ertragen,<br />
wenn sie glauben, keine Alternative zu<br />
haben, oder daß die Verfolgung einer Alternative<br />
zu einem kostspieligen oder unwahrscheinlichen<br />
Ziel führt. Aber Mobilisierung wird durch<br />
das Vorhandensein kollektiven Unmuts stark gekräftigt.<br />
Ein solcher kommt nahe an einen notwendigen<br />
Faktor für Mobilisierung heran, ist<br />
aber selbst nicht hinreichend. Dazu müssen auch<br />
Interpretationsrahmen vermittelt werden und<br />
Organisationsstmkturen aufgebaut werden. Läßt<br />
man aber diesen kollektiven Unmut außer Acht,<br />
so kann ex ante niemals angemessen eingeschätzt<br />
werden, welche Schubkraft kollektiver<br />
Protest in einer sich öffnenden politischen Gelegenheitsstruktur<br />
bekommen kann. Die Entwicklungen<br />
in Osteuropa im Jahre 1989 belegen<br />
diese Argumentation deutlich, waren doch<br />
Ost und West gleichermaßen über die große<br />
Verbreitung und schnelle Mobilisierung des kollektiven<br />
Unmuts überrascht.<br />
In Abbildung 1 bleiben noch einige Pfade zu<br />
erläutern: Die politische Gelegenheitsstruktur<br />
beeinflußt taktische Überlegungen sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />
direkt und zugleich indirekt über<br />
deren Ressourcenmobilisierung. Von den taktischen<br />
Überlegungen der Herausforderer gehen<br />
sehr wohl auch Rückwirkungen auf die<br />
politische Gelegenheitsstruktur aus. Schließlich<br />
stehen in den meisten Fällen der Gebrauch<br />
politischer Gewalt und gewaltfreie Protestformen<br />
konträr gegenüber, solange eine einzige<br />
Bewegung betrachtet wird. Im Zeitablauf und<br />
bei Betrachtung des gesamten Sektors einer<br />
breiten sozialen Bewegung mögen aber sehr<br />
wohl wechselseitige Einflußprozesse zwischen<br />
gewaltfreien und gewaltsamen Protestformen<br />
65<br />
HAUPTBEITRÄGE<br />
auftreten. Ein entscheidender Faktor ist hier<br />
die Handhabung des staatlichen Repressionspotentials.<br />
Diese Scharnierfunktion, also die<br />
Handhabung des staatlichen Gewaltmonopols,<br />
entscheidet mit darüber, ob in freiheitlichen<br />
Demokratien kollektive Proteste weitgehend<br />
gewaltfrei oder in gewaltsamer Form ablaufen,<br />
wie das in Autokratien stärker der Fall ist. Auch<br />
sind andere Residualfaktoren auf Ressourcenmobilisierung<br />
und politische Gewalt wie z.B.<br />
Diffusionsprozesse außer Acht gelassen. Insgesamt<br />
zeigen die Kausalbeziehungen in der<br />
stark vereinfachenden Abbildung aber an, wie<br />
weit sich die Forschung von relativ einfachen<br />
Deprivationsansätzen entfernt hat, die zumeist<br />
von der Hintergrundhypothese einer relativ direkten<br />
Beziehung zwischen Frustration und<br />
Aggression ausgehen. Zugleich wird deutlich,<br />
wie komplex und realitätsnäher bereits wenige<br />
Grundannahmen die Beziehungen zwischen<br />
Ressourcenmobilisierung und politischer Gewalt<br />
werden lassen.<br />
Ekkart Zimmermann lehrt als Professor für Soziologie<br />
an der Universität Dresden.<br />
Anmerkung<br />
1<br />
Dies gilt etwa für einige der public interests-<br />
Organisationen, deren energiegeladene Gründungsunternehmer<br />
ihre Aktionen ohne eine große Zunahme<br />
in den Beschwerden starteten (Berry 1977:<br />
17ff; Jenkins 1983: 530).<br />
Literatur<br />
Berry, Jeffrey M. 1977: Lobbying for the People.<br />
Princeton: Princeton UP.<br />
Bowers, D.AJMitchell, C.RJWebb, K. 1980: Modelling<br />
bicommunal conflict: 1, posing the problem.<br />
In: Futures, Vol. 12, 473-488.<br />
Cress, Daniel M.ISnow, David A. 1998: Mobilization<br />
at the margins: organizing by the homeless.<br />
In: Costain, Anne N./McFarland, Andrew S. (eds.):