Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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PROTEST UND GEWALT<br />
zu (Bourgeoisie und Proletariat). Dabei lancierte<br />
Marx das Proleteriat geradezu programmatisch<br />
- aufgrund seiner besonderen<br />
Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozeß<br />
- als das revolutionäre Subjekt seiner<br />
Zeit.<br />
Obgleich nach Marx auch andere Kandidaten<br />
für die Position des revolutionären Subjekts in<br />
Frage kamen, blieb der Erklärungsansatz in<br />
seinen Grundannahmen doch in Kraft. So griff<br />
etwa Alain Touraine in den 60er Jahren auf<br />
das Structural Strains-Schema zurück, um die<br />
damaligen Studentenunruhen gesellschaftsstrukturell<br />
zu verorten und die allseits aufkeimende<br />
Studentenbewegung als historischen<br />
Akteur zu deuten, dem es darum ging, „die<br />
Kontrolle des gesellschaftlichen Wandels zu<br />
übernehmen" (Touraine 1972: 97; vgl. auch<br />
Marcuse 1980; Ahlberg 1972). Jahre später<br />
waren es dann vor allem die ,Neuen <strong>Soziale</strong>n<br />
<strong>Bewegungen</strong>', bei deren Beschreibung und Erklärung<br />
der Structural Strains-Ansatz zum Zuge<br />
kam. So wurde die Mobilisierung der Neuen<br />
<strong>Soziale</strong>n <strong>Bewegungen</strong> zumeist durch Modernisierungsbrüche,<br />
gesellschaftliche Strukturprobleme<br />
und andere Mängelerscheinungen erklärt.<br />
Dabei erwies sich vor allem die Wertewandel-These<br />
von Ronald Inglehart als äußerst<br />
einflußreich, wonach es im Laufe der 50er und<br />
60er Jahre durch Wohlfahrtsstaat und Bildungsrevolution<br />
zu einem Wertewandel kam, der einer<br />
,Silent Revolution' gleich zwar gravierende,<br />
aber lange Zeit nahezu unbemerkte Veränderungen<br />
in den Sozialisationsbedingungen der<br />
westlichen Industriestaaten verursachte. Resultat<br />
dieser ,Stillen Revolution' war - und hier<br />
kommt die zweite Komponente dieses Erklärungsansatzes<br />
ins Spiel -, daß eine neue Generation<br />
heranwuchs, die durch eine bestimmte,<br />
vor allem sozialwissenschaftlich-akademische<br />
Qualifikation im besonderen dafür prädestiniert<br />
war, die Berücksichtigung postmaterialistischer<br />
Wertemuster einzuklagen, was sich etwa in Par-<br />
21<br />
HAUPTBEITRÄGE<br />
tizipationsforderungen an das politische System<br />
äußerte, aber auch im Selbstbestimmungsanspruch<br />
von Minderheiten wie Lesben und<br />
Schwulen oder dem Schutz der Umwelt durch<br />
die Ökologiebewegung. Eine Anspruchshaltung,<br />
die Joachim Raschke mit der Formel Paradigma<br />
der Lebensweise' auf den Punkt brachte.<br />
Zentral für den ,new social movements approach'<br />
war somit, daß diese .Bewegungsfamilie'<br />
(Rucht/della Porta) einerseits als durch<br />
gesellschaftsstrukturelle Verhältnisse bedingt<br />
verstanden wurde, was der Kapitalismustheorie<br />
von Marx nahekommt; andererseits von einer<br />
bestimmbaren sozialstrukturellen Mobilisierungsbasis<br />
sozialer <strong>Bewegungen</strong> ausgegangen<br />
wurde, was an die Klassentheorie von<br />
Marx erinnert, wobei diese <strong>Bewegungen</strong>, obgleich<br />
in ihren Aktionen durchaus politischstrategisch<br />
nach außen orientiert, auch kulturell-persönliche,<br />
mehr nach innen gerichtete<br />
Interessen verfolgte, wie eben die Verfechtung<br />
bestimmter Lebensweisen, Selbstverständnisse<br />
und Werthaltungen (Brand et al.<br />
1986; Melucci 1989).<br />
Konzeptionell setzt der Structural Strains-Ansatz<br />
also immer an der Sozialstruktur einer<br />
Gesellschaft an, und das bedeutet zumeist zweierlei:<br />
Auf der einen Seite geht es um Sozialstruktur<br />
im Sinne des Organisationsprinzips einer<br />
Gesellschaft, sei dies nun wohlfahrtsstaatlicher<br />
Kapitalismus (Rucht 1994) oder funktionale<br />
Differenzierung (Hellmann 1996), was<br />
strukturimmanente Problempotentiale und Folgeprobleme<br />
birgt, wogegen sich der Protest<br />
richtet. Auf der anderen Seite geht es um Sozialstruktur<br />
im Sinne eines Kollektivprinzips der<br />
Gesellschaft, ob es nun Klassen, Schichten oder<br />
Milieus sind, aus denen heraus der Protest entsteht<br />
(Kriesi 1987). Dabei ist klar: Würde man<br />
versuchen, allein auf diese Weise soziale <strong>Bewegungen</strong><br />
zu erklären, sähe man sich berechtigter<br />
Kritik ausgesetzt. Denn ohne Zweifel<br />
reicht es nicht aus, bloß von Problem- und