Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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PULSSCHLAG<br />
15 Millionen zählend. Und ob die Themen adäquat<br />
oder nicht adäquat sind, haben die Intellektuellen<br />
ohnehin seit je, ob es ihnen paßte oder<br />
nicht, jeweils selbst entschieden, und sie haben<br />
dies getan - mal so, mal so. Entscheidend indes<br />
ist, um in der Zola-Metapher zu bleiben, daß es<br />
keine ,Morgenröte' für 5 Centimes mehr gibt<br />
(so die Ubersetzung des Zeitungsnamens, in der<br />
Zola J'accuse veröffentlichte) - zumal mit dem<br />
heute realutopisch klingenden Untertitel .Literarisch.<br />
Künstlerisch. Sozial'. Eine solche mediale<br />
Dreiheit würden wir heute brauchen: Ich<br />
klage an, daß es sie nicht gibt.<br />
Wissenschaft und Literatur<br />
Ihr Fehlen liegt auch im Zustand der imaginären<br />
.scientific Community' begründet. Diese Gemeinschaft<br />
der Wissenschaftler hat sich schon<br />
vor Jahrzehnten in verschiedenenartige Ensembles<br />
fachbornierter oder paradigmatischer Teilkulturen<br />
aufgelöst. So existieren nur noch drei<br />
strukturelle Teilöffentlichkeiten von Intellektuellen:<br />
die mediengefragten ,Wortspenderablieferer'<br />
für sofort wieder vergessene Momentaufnahmen;<br />
die fachkundigen ,Ein-Punkt-Bewegungsaktiven',<br />
auf die alle Jubeljahre das Wahrnehmungsroulette<br />
wartet, wenn die Kugel gerade<br />
in das Fach ihres einen Punkts gerollt ist; die<br />
Vertreterinnen der nur kursorisch einander berührenden<br />
Teilkulturen, mag es sich um Anthroposophen,<br />
Marxisten, Feministinnen, Anarchisten,<br />
Poststrukturalisten, Psychoanalytiker, Sozialpolitikerinnen,<br />
Kulturproduzierende, Surreale,<br />
Postneodadapunks, Ökologisten usw. handeln.<br />
Die Paradoxie, daß sich Intellektuelle jenseits<br />
des Ensembles ihrer eigenen Sub- oder Teilkulturen<br />
nicht wahrnehmen und sich im selben<br />
Atemzug gegenseitig vorwerfen, sie würden<br />
schweigen, geht aber noch weiter. Gar nicht erst<br />
will ich an dieser Stelle autobiographisch werden,<br />
etwa darlegen, daß jede meiner Äußerungen<br />
oder Handlungen zu Fragen des Kochens<br />
oder Essens ca. zehnmal soviel Resonanz erhal<br />
FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 11, HEFT 4, 1998<br />
ten wie zu allen anderen, von Armutsbevölkerung<br />
bis Zukunftsforschung, zusammengenommen,<br />
sondern mit der Reifenrath-Passage fortsetzen:<br />
,Millionen Männer und Frauen sind<br />
arbeitslos. Das müßte auch jeden an Staat und<br />
Gesellschaft interessierten Literaten umtreiben,<br />
unabhängig davon, wer diesen Zustand verschuldet<br />
hat. Für einen engagierten Zeitzeugen<br />
sollte diese Epoche des globalen Wandels Herausforderung<br />
genug sein, nicht nur der Ökonomie<br />
das Feld zu überlassen, sondern alle Werte<br />
dagegenzuhalten, wenn man sie denn überhaupt<br />
noch in sich wahrnimmt.' Und das, wo erstens<br />
Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von<br />
Intellektuellen selbst, wenn auch nicht arbeitslos<br />
- Arbeit haben Intellktuelle immer -, so<br />
doch erwerbslos sind. Wo zweitens der Anteil<br />
der Infrastrukturen, in welchen sich Intellektuelle<br />
,umtreiben' - wie so poetisch geschrieben<br />
wird -, weggebrochen ist. Zumal sozialkritische<br />
Wortergreifungen wenig Marktwert haben<br />
und schlecht Sponsoren finden - besonders<br />
unter den Kritisierten. Drittens haben sich trotz<br />
allem tausende Intellektuelle bei der Erfurter<br />
Erklärung, der Nationalen Armutskonferenz,<br />
den sozialpolitischen Foren und den verschiedensten<br />
Nicht-Regierungsorganisationen engagiert;<br />
selbst hier auf dem Open Ohr-Festival<br />
wären mehrere hundert zu zählen. Viertens ist es<br />
also nicht wahr, daß keine Werte entgegengehalten<br />
werden - dadurch bestimmen sich ja<br />
bekanntlich Subkulturen -, sondern daß wir und<br />
die anderen Werte von denen nicht wahrgenommen<br />
werden, die sich bereits auf das überlassene<br />
Feld der Ökonomie begeben haben. Ich klage<br />
nicht, ich bin wütend. Ich klage nicht, ich klage<br />
an: strukturell und entpersonalisiert.<br />
Wirtschaft und Kapital<br />
Die Armutsbevölkerung hat im angeblich so<br />
reichen Deutschland - ich habe, seit ich hier<br />
lebe, noch kein reiches Deutschland, sondern<br />
nur reiche Banken und Konzerne gesehen -