Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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HAUPTBEITRÄGE<br />
Kai-Uwe Hellmann<br />
FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 11, HEFT 4, 1998<br />
Protest und Gewalt - aus Sicht des<br />
Structural Strains-Ansatzes<br />
1 Paradigmen in der<br />
Bewegungsforschung<br />
Die Bewegungsforschung beschäftigt sich vor<br />
allem mit den Möglichkeitsbedingungen erfolgreicher<br />
Protestmobilisierung. Das schließt<br />
nicht nur die Entstehung und Entfaltung sozialer<br />
<strong>Bewegungen</strong>, sondern auch die Erhaltung<br />
und Durchsetzung ihrer Ziele und Anliegen<br />
ein, und betrifft nicht nur die <strong>Bewegungen</strong><br />
selbst, sondern auch die daran Beteiligten<br />
sowie das gesellschaftliche Umfeld.<br />
Dabei spiegelt sich die Komplexität des Gegenstandes<br />
in der Komplexität der Forschung<br />
wider, denn mittlerweile liegen gleich mehrere<br />
Ansätze vor, die allesamt Grund bieten,<br />
auf deren besonderen Beitrag zur Bewegungsforschung<br />
aufmerksam zu machen (McAdam<br />
et al. 1996; Klandermans 1997; Hellmann/<br />
Koopmans 1998).<br />
Bei der Frage, wie Protest und Gewalt zusammenhängen,<br />
spielt nun ein Erklärungsansatz<br />
eine herausragende Rolle, dem es vor allem<br />
um die gesellschaftlichen Voraussetzungen und<br />
Ursachen von (kollektiver) Gewalt geht. Danach<br />
weisen Gesellschaften strukturimmanente<br />
Widersprüche und Spannungen (structural<br />
strains) auf, die - werden sie nicht auf demokratische<br />
Weise kommuniziert und kanalisiert<br />
- dazu führen können, daß sich kollektiver<br />
Unmut äußert, in Protest übergeht und schließlich<br />
in Gewalt umschlägt, je nachdem, inwieweit<br />
die .Dynamik der Gewalt' (Karstedt-Henke<br />
1980) sich im Laufe einer Eskalationsspira<br />
le zu entfalten droht, ohne rechtzeitig unterbrochen<br />
zu werden. Insbesondere Wilhelm<br />
Heitmeyer hat sich in seinem Forschungsprojekt<br />
zu Rechtsextremismus und Gewalt dieses<br />
Stmctural Strains-Ansatzes auf prominente und<br />
durchaus einflußreiche Weise bedient, weshalb<br />
bei der Frage, welche gesellschaftsstrukturellen<br />
Bedingungen dem Übergang von Protest<br />
zu Gewalt zugrunde liegen mögen, auch auf<br />
den Heitmeyerschen Untersuchungsansatz Bezug<br />
genommen werden soll.<br />
2 Gesellschaftsstruktur und Protest<br />
Der Structural Strains-Ansatz weist im Kern<br />
zwei Komponenten auf: Zum einen wird die<br />
Entstehung und Entfaltung sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />
auf Problempotentiale zurückgeführt, die<br />
in der Gesellschaftsstruktur selbst liegen, wie<br />
Konfliktlinien oder strukturelle Spannungen.<br />
Zum anderen greift dieser Ansatz auf sozialstrukturelle<br />
Konzepte wie Klasse, Schicht oder<br />
Subkultur als Rekrutierungspotentiale zurück,<br />
die eine jeweils besondere Sensibilität für derartige<br />
Problempotentiale aufweisen. Dadurch<br />
bedingen sich beide Komponenten wechselseitig,<br />
was das Kontingenzrisiko nicht unwesentlich<br />
schmälert.<br />
Prototypisch hat Karl Marx diese Erklärungsweise<br />
auf die Arbeiterbewegung angewandt.<br />
Einerseits ging er von einem gesamtgesellschaftlichen<br />
Zentralkonflikt zwischen Kapitel<br />
und Arbeit aus; andererseits wies er beiden<br />
Konfliktseiten eine spezifische Sozialstruktur