Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 11, HEFT 4, 1998<br />
überlappender Ereignisse aufweisen. 6<br />
Genau an dieser Schnittmenge setzt nun die<br />
Konzeption des vorliegenden Themenhefts an.<br />
Denn es greift gerade jene Ereignisse auf, die<br />
ebenso mit Protest wie mit Gewalt zu tun haben,<br />
wobei die Erklärung eines Zusammenhangs<br />
von Protest und Gewalt von einer Vielzahl<br />
von Möglichkeitsbedingungen abhängen<br />
dürfte, die erst in ihrer Gesamtheit dazu befähigen,<br />
diesen Vorgang verständlich zu machen.<br />
Die erklärte Absicht dieses Heftes ist es,<br />
mehr über diese Gesamtheit in Erfahrung zu<br />
bringen.<br />
Zum Konzept<br />
Bei der Frage nach dem Zusammenhang von<br />
Protest und Gewalt und dem Ubergang von<br />
Protest zu Gewalt erscheint eine deduktive<br />
Herangehensweise sinnvoll. Anhand der fünf<br />
vorherrschenden ,Paradigmen der Bewegungsforschung'<br />
(vgl. Hellmann/Koopmans 1998)<br />
soll es weniger um eine konzeptionelle Beurteilung<br />
oder Weiterentwicklung der Forschungsansätze<br />
als vielmehr darum gehen, ob<br />
und inwieweit die einzelnen Paradigmen zur<br />
Erklärung des Phänomens und seines dynamischen<br />
Charakters beitragen können. Um die<br />
multifunktionalen Phänomene von Protest und<br />
Gewalt angemessen verstehen zu können, erscheint<br />
es daher notwendig, jenseits der einzelnen<br />
Erklärungsvorteile der jeweiligen Paradigmen<br />
den komplementären Charakter des<br />
Heftkonzepts zu betonen: Es gibt weder die<br />
Gewalt noch den Protest oder das Paradigma.<br />
Im Folgenden werden die fünf Paradigmen<br />
sowie deren Leitfragen und Erklärungsansätze<br />
zum Verhältnis von Protest und Gewalt kurz<br />
skizziert.<br />
(1) Beim Structural Ära/ns-Paradigma geht es<br />
vorrangig um die Erklärung der Entstehung<br />
und Entfaltung sozialer <strong>Bewegungen</strong> durch<br />
EDITORIAL<br />
sozialen Wandel und Modernisierungsbrüche.<br />
Zumeist sind sozialpsychologische Fragestellungen<br />
damit verbunden, die sich auf Verlusterfahrungen,<br />
Verunsicherungen, Nachteilswahrnehmungen<br />
im Vergleich mit anderen und<br />
anderes mehr richten. Zudem greift dieses Paradigma<br />
häufig auf sozialstrukturelle Konzepte<br />
wie Klasse, Schicht oder Subkultur als spezifische<br />
Rekrutierungsbasen zurück, die eine<br />
jeweils besondere Empfänglichkeit für Deprivationserfahrung<br />
und Protestbereitschaft aufweisen<br />
(vgl. Brand et al. 1986; Kriesi 1987;<br />
Rucht 1994). Für den Structural Strains-Ansatz<br />
läßt sich nun fragen: Inwieweit kann man<br />
Protestgewalt durch gesellschaftsstrukturelle<br />
Voraussetzungen erklären? Legen gewisse<br />
gesellschaftliche Veränderungen vielleicht<br />
eine erhöhte Gewaltbereitschaft nahe, etwa<br />
aufgrund einer allgemeinen Verrohung der Sitten?<br />
Ist eine Verschiebung der politischen<br />
Kultur beobachtbar, sind es bspw. außenpolitische<br />
(z.B. Kriege) oder anderweitige Impulse,<br />
die es nahelegen, Protestgewalt zu erklären?<br />
Und: Wer gehört zum militanten Block? Welcher<br />
Sozialisationshintergrund herrscht vor?<br />
(2) Das Collective Wenn'fy-Paradigma führt<br />
vor allem den Identitätsaspekt als Mobilisierungsressource<br />
ins Feld. Entscheidend ist, daß<br />
soziale <strong>Bewegungen</strong> eine kollektive Identität<br />
ausbilden, um (in) Bewegung zu sein, wobei<br />
auch Aspekte wie Gemeinschaftsbildung,<br />
,commitment' und ,submerged networks', aus<br />
denen heraus der Protest generiert und mobilisiert<br />
wird, von Belang sind. Theoretisch besteht<br />
der spezielle Reiz dieses Paradigmas darin,<br />
vorrangig den Selbstbezug sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />
im Sinne von ,Protest als Selbstzweck'<br />
zu thematisieren, was von den anderen Paradigmen<br />
zumeist vernachlässigt wird (vgl. Tayler/Whittier<br />
1992; Rucht 1995; Melucci 1995).<br />
Mit dem Collective Identity-Ansatz kann erörtert<br />
werden, welchen Stellenwert Gewalt für<br />
die Bewegung und die einzelnen Beteiligten