25.10.2013 Aufrufe

Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 11, HEFT 4, 1998 HBMRM<br />

nete XY ist abwählbar, möglicherweise geschieht<br />

dies sogar durch das Kreuz alle 4 Jahre. Daimler<br />

und Siemens (oder auch RTL) sind nicht abwählbar.<br />

Jedes Verfahren, das die Demokratie dynamisiert<br />

und in die Gänge bringt, ist zu begrüßen.<br />

Wenn auch das Rotationsprinzip ein (allzu) kurzes<br />

Intermezzo der grünen Partei war: Es ist<br />

gezeigt worden, daß es möglich war - und die<br />

Erfahrungen, daß in einer Legislaturperiode<br />

vollständig andere Abgeordnete im Landesparlament<br />

von Baden-Württemberg saßen als in<br />

der Legislaturperiode davor, bedeutet einen<br />

Quantensprung parlamentarischer Politik. Daher<br />

klage ich die an, die aus offensichtlichen<br />

Karrieregründen das Rotationsprinzip haben<br />

verkommen lassen. Dabei möchte ich nicht so<br />

tun, als sei das Rotationsprinzip das einzige<br />

Allheilmittel demokratischer Politik. Alles an<br />

Volksentscheiden, -begehren und -abstimmungen,<br />

an Vorabstimmungen und Räten, freiwilligen<br />

Vereinigungen und ihren Netzwerken soll<br />

mir recht sein. Jede Relativierung von Macht,<br />

jede Reflexion auf diese, insbesondere ihrer<br />

Akteure und Aktricen, soll mir recht sein. Jede<br />

Politik als Willensbildung durch selbsternannte<br />

(oder gar von anderen vorgeschobene) Eliten<br />

führt uns zu einer Fusion von Eliten und damit<br />

zu einer tendenziellen Vernachlässigung der<br />

Interessen des Volkes, das seiner Herrschaft<br />

enteignet worden ist.<br />

Zum letzten Mal: J'accuse<br />

Meine Redezeit neigt sich dem Ende zu, und ich<br />

beginne mir selbstredend bewußt zu werden,<br />

wieviele Felder von Ökonomie und Politik ich<br />

schon aus Zeitgründen aus diesem J'accuse-<br />

Revival ausklammem mußte: die Frauenpolitik,<br />

die Gesundheitspolitik, viele Bereiche der<br />

Ökologie, selbst viele Detaillierungen der Menschenrechte.<br />

Zur Kulturpolitik will ich wenigstens<br />

noch einen kurzen Schlenker machen,<br />

nicht nur, weil sie Veranstaltungen wie Open<br />

Ohr unmittelbar betrifft, sondern auch, weil sie<br />

PULSSCHLAG<br />

Auswirkungen daraufhat, daß Kulturproduzierende<br />

(so auch die angeführten .interessierten<br />

Literaten') abnehmende Lust dazu haben, sich<br />

ständig unentgeltlich als ,engagierte Zeitzeugen'<br />

verwenden zu lassen, wie dies Reifenrath<br />

eingefordert hat. Hier klage ich also an:<br />

• die Exekutoren von Streichkonzerten und<br />

Sparpaketen, die dazu geführt haben, daß<br />

kulturelle Produktion zur beliebigen Freizeitbeschäftigung<br />

degradiert zu werden neigt.<br />

• die, die falsche Hoffnungen auf Sponsoren<br />

geweckt haben, als ob diese nicht nur ein<br />

sehr schmales Band an Zusatzfmanzierung<br />

abdecken könnten (im Einzelnen: Großevents<br />

ä la Festspiele, große Ausstellungen, katalogartige<br />

Druckwerke, Plakate, die nur im<br />

Sonderfall marktgängiger Veranstaltungen<br />

sinnvoll sind, gelegentliche Sachspenden).<br />

• die, die bis zu 90% der Künstler und Künstlerinnen<br />

zur Armutsbevölkerung gemacht<br />

haben; so den Kreis wieder vollendend, von<br />

wo Murgers ,Szenen aus den Bohemeleben'<br />

1843 ihren Ausgang genommen hat.<br />

Sicherlich nicht unmittelbar zu vergleichen, aber<br />

wie kann an Emile Zolas J'accuse erinnert werden,<br />

wenn nicht in der anklagenden Form. Wahrscheinlich<br />

zwar mit der Folgenlosigkeit, die im<br />

Text selbst als zeitgenössische Barriere für Intellektuelle<br />

angeklagt worden ist, da eine existenzphilosophische<br />

Haltung das Erforderliche<br />

angesichts des voraussehbaren Scheitems zu<br />

sagen und zu tun, schon zu den Überlebensbedingungen<br />

der Intellektuellen in den 50er Jahren<br />

gehörte. Aber um noch abschließend den<br />

Neopositivismus die Ehre zu geben: Hierin ließe<br />

ich mich gerne falsifizieren.<br />

Rolf Schwendter, Wien/Kassel.<br />

Anmerkung<br />

1<br />

Der Text dokumentiert die Rede Rolf<br />

Schwendters auf dem ,Open Ohr'-Festival in<br />

Mainz 1998 in überarbeiteter Fassung.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!