Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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PROTEST POLICING UND DAS PROBLEM DER GEWALT •Jng<br />
Nicht erst seit Brokdorf stellt die Forderung<br />
nach politischer Neutralität der Polizei ein elementares<br />
einsatzphilosophisches Prinzip dar.<br />
Dieses Postulat wurde durch den Beschluß des<br />
Bundesverfassungsgerichts nochmals unterstrichen:<br />
Die Polizei müsse „unparteiische Hüterin<br />
des Rechts" (PDV 100: 3.4.1.: 4) bleiben<br />
und thematische Neutralität gegenüber dem<br />
Protestgegenstand üben. Der strategische Kern<br />
der aktuellen polizeilichen Einsatzphilosophie<br />
steckt in der Devise „Gewalt schon im Vorfeld<br />
verhindern" (PDV 100: 3.4.1.: 13). Nicht nur<br />
die Gewalttätigkeit der Protestierenden soll im<br />
Vorfeld verhindert werden, sondern auch der<br />
Einsatz polizeilicher Gewalt - als der legitimatorisch<br />
angreifbaren .Achillesferse' - soll<br />
sparsam dosiert werden. Die Polizei müsse sich<br />
als eine demokratische Polizei verkaufen, so<br />
ein leitender Beamter im Interview; es müsse<br />
der optische Eindruck vermittelt werden, daß<br />
„demokratisch vorgegangen" werde. Doch gerade<br />
diese Strategie der Gewaltprophylaxe kann<br />
die ,Optik des Einsatzes' verschlechtern, wie<br />
ein anderer befragter Polizeiführer beschrieb:<br />
„Je liberaler der Einsatz wirken soll, also [...]<br />
je geringer der Grad des anzuwendenden<br />
Zwangs sein soll, der Zwangsmittel, je niedriger<br />
also praktisch das polizeiliche, lassen Sie<br />
mich mal hart ausdrücken, Waffenpotential angesetzt<br />
sein soll, desto höher ist der Personalansatz.<br />
Und das führte dann zu einer Situation,<br />
bei der sich im Einzelfall von der Optik her,<br />
der gute Wille für die Gegenseite in das Gegenteil<br />
zu verkehren scheint [...]. Das führt<br />
natürlich wieder zu [einem; M.W.] martialischen<br />
Eindruck; Massen von Polizei treten auf."<br />
Aus diesem Grund kann die Taktik .Abschrekkung<br />
durch Präsenz' auch das Gegenteil von<br />
Gewaltprophylaxe, nämlich die Provokation der<br />
Demonstranten bewirken.<br />
Der Einsatz der Gewalt ist nicht nur wegen der<br />
öffentlichen Sensibilität heikel. Auch von<br />
höchstrichterlicher Seite wird (im Brokdorf-<br />
HAUPTBEITRÄGE<br />
Urteil des BVerfG) angesichts des hohen Stellenwerts<br />
der Versammlungsfreiheit auf die Dosierung<br />
der Gewalt unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips<br />
großer Wert gelegt:<br />
Die Polizei muß die richtige „Dosage" (PDV<br />
100: 3.4.1.: 10) wählen, um sicherzustellen,<br />
daß sie nicht die Falschen trifft und übermäßig<br />
Gewalt ausübt. Indem Gewalt nur sparsam eingesetzt<br />
wird, kann zudem jegliche Solidarisierung<br />
zwischen friedlichen und gewalttätigen<br />
Demonstranten von vornherein verhindert werden<br />
(PDV 100: 3.4.1.: 10).<br />
Ein Aspekt der gewaltprophylaktischen Einsatzphilosophie<br />
besteht in den Bemühungen<br />
der Polizei, den Einsatz von Gewalt zu minimieren.<br />
Dieser langfristige Trend ist seit Ende<br />
der 60er Jahre in der Fachdiskussion festzustellen<br />
(Winter 1998). Minimalisierung des<br />
Gewalteinsatzes wird heute indes nicht als Gewaltverzicht<br />
oder taktischer Rückzug, sondern<br />
als offensives Handeln verstanden: „Es zeigt<br />
sich, daß offensichtlich immer mehr offensive<br />
Taktiken die traditionellen defensiven Maßnahmen<br />
ersetzen [...]. Ähnlich zeigt sich eine Entwicklung<br />
bei der Einschreitschwelle. Die hohe<br />
Einschreitschwelle tritt immer stärker in den<br />
Hintergrund, die niedrige Einschreitschwelle<br />
(frühes Einschreiten bei schon erkennbaren geringen<br />
Störungen, jedoch .dosiert') erhält vermehrt<br />
den Vorrang" (PDV 100: 3.4.1.8.: 50).<br />
Hinter dieser seit Mitte der 80er Jahre zu beobachtenden<br />
.deeskalativen Stärke' steht die<br />
strategisch-taktische Priorität, die Demonstration<br />
unter Kontrolle zu halten, für alle Eventualitäten<br />
der komplexen Situation .Demonstration'<br />
gewappnet zu sein und Straftäter beweissicher<br />
festzunehmen. Es wird betont, daß<br />
Deeskalation nicht „Schlappheit, Untätigkeit<br />
oder Laisser-faire" (Die Polizei 9/1991: 223)<br />
impliziere, sondern eine professionelle, sprich<br />
aktive Lagebewältigung, die einen hohen Planungs-<br />
und Personalaufwand erfordere (Schriftenreihe<br />
der Polizei-Führungsakademie 4/1989: