Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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PULSSCHLAG<br />
rung an den Interessen der Träger von Werbeeinschaltungen,<br />
zunehmend häufigere Ausschaltung<br />
des Denkens zugunsten aggressiver Emotionalisierung<br />
sowie Quoten-Terror (der längst<br />
auf die öffentlich-rechtlichen Kanäle überzugreifen<br />
begonnen hat) und Pseudovielfalt (die<br />
Kabelauswahl zwischen 40 Sendern nützt wenig,<br />
wenn aus subjektiver Sicht auf allen Kanälen<br />
Schund gespielt wird). Mag ja sein, daß die<br />
eine oder andere Kolumnistin, der ein oder<br />
andere Hörfunkjournalist noch Pressefreiheit<br />
genießt - und die Enklaven mögen innerhalb der<br />
Gesamtfarce bewahrt bleiben.<br />
Die Bürger- und die Menschenrechte von 1789<br />
oder 1848 legten, wenn auch folgenlos, Emphase<br />
auf die Freiheit, sich zu äußern, sich zu<br />
vereinigen und zu versammeln. Dies ist fraglos<br />
ein Fortschritt: Wir haben aber auch gesehen,<br />
was passiert, sobald diese Freiheiten vernachlässigt<br />
werden. Und es wurde keine Emphase<br />
auf das Menschenrecht zu überleben gelegt: auf<br />
Nahrung, Arbeit und Wohnung, auf Gesundheit,<br />
Sexualität und Bildung. Ich klage die an, die<br />
diese beiden Kategorien von Menschenrechten<br />
auseinandergerissen haben, um eine der beiden<br />
(wenn nicht alle beide) zu verdrängen. Ich klage<br />
die an, welchen die Äußerungsfreiheiten zentral<br />
sind, die den Uberlebensrechten hingegen gleichgültig<br />
gegenüberstehen. Ich klage gleichermaßen<br />
die an, für die die Uberlebensrechte wichtig<br />
sind, die aber die Äußerungsrechte vernachlässigen.<br />
Dieses Auseinanderreißen von Grundrechten<br />
war von seinem Ansatz her verständlich, wenn<br />
auch in seinen Wirkungen beiderseits verheerend.<br />
Wenn der französische Schriftsteller Anatole<br />
France im vorigen Jahrhundert festgestellt<br />
hat, die Majestät des Gesetzes verbiete es den<br />
Reichen und den Armen gleichermaßen unter<br />
Brücken zu schlafen, ist diese Äußerung an<br />
Treffsicherheit noch immer nicht zu überbieten.<br />
Zu erinnern ist an die Schwierigkeiten, die der<br />
Gewerkschaftsbewegung, trotz aller Menschenrechte<br />
auf Vereins- und Versammlungsfreiheit,<br />
FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 11, HEFT 4, 1998<br />
im ganzen 19. Jahrhundert gemacht worden<br />
sind, oder an das Sozialistengesetz von 1878 bis<br />
1891. Meinungsfreiheit und vergleichbare<br />
Grundfreiheiten erscheinen eben solange gut,<br />
solange sie die Interessen der Reichen nicht<br />
substantiell stören. Sollte dabei jemand verhungern<br />
oder erfrieren, ist dies allenfalls für ein<br />
kurzes, kleineres Medienereignis gut.<br />
Zum anderen war es gleichermaßen verheerend,<br />
wenn zwar die Grundrechte auf Arbeit, Wohnung<br />
und Bildung so einigermaßen gewahrt, die<br />
Äußerungsrechte (Meinungs-, Vereins-, Versammlungs-,<br />
Reisefreiheit - um nur wenige zu<br />
nennen) jedoch erbarmungslos sistiert und die<br />
Freiheit der Andersdenkenden - wie Rosa Luxemburg<br />
dies genannt hatte - nicht gewahrt<br />
wurden. Und das Grundrecht auf Wohnung nützt<br />
eben nicht viel, wenn der Wohnungsbau nicht<br />
zu den ersten ökonomischen Prioritäten zählt.<br />
Demokratie und<br />
politische Partizipation<br />
Demokratie wurde bislang als Herrschaft derer<br />
verstanden, die sich mit Legitimation des Volkes<br />
über dieses erhoben haben. Etwa im Sinne<br />
jenes historischen Diskurses zwischen Max<br />
Weber und Friedrich Naumann: Das Volk habe<br />
in der Wahlzelle sein Kreuz zu machen und<br />
anschließend vier Jahre lang das Maul zu halten.<br />
Ich klage die an, die die Herrschaft des Volkes<br />
ständig im Munde führen, um dieses aber umso<br />
effizienter zu beherrschen.<br />
In seiner etwa vor 30 Jahren erschienen Schrift<br />
Transformation der Demokratie' hat Johannes<br />
Agnoli daraufhingewiesen, wie sich die demokratischen<br />
Prozesse hierarchisieren und zu ihrer<br />
eigenen Legitimation verkommen. Die Abgeordneten<br />
werden unter ihre Fraktionsvorsitzenden<br />
subsumiert, diese unter die Ministerien,<br />
diese unter die Ministerialbeamten, diese unter<br />
die Lobbies. Von der Demokratie ist schon vor<br />
25 Jahren gesagt worden, daß sie nicht nur vor<br />
dem Kasernentor und dem Schultor, sondern<br />
auch vor dem Betriebstor endet. Der Abgeord-