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FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 11, HEFT 4,1998<br />

und Erfolgsversessenheit geprägt. Die im eigenen<br />

Lügengespenst Befangenen (Zola meint<br />

hier Generalstab, Kriegsministerium und<br />

Kriegsgericht) hätten es aus Korpsgeist nicht<br />

gewagt, reinen Tisch zu machen. Zola schließt<br />

die acht Abschnitte an, welche die Schuldigen<br />

und ihre Schuld an den Pranger stellen und jeder<br />

beginnt mit ,Ich klage an'. Der Schriftsteller<br />

wirft sich in die Robe des Staatsanwalts. Pathos<br />

prägt den Brief und Polarisierung: Hier die<br />

edlen Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit,<br />

dort die Teufel, Betrüger und Geisteskranken.<br />

J'accuse will aufrütteln, arbeitet mit Vereinfachungen,<br />

rhetorischem Blendwesen und diffusen<br />

Drohungen.<br />

Dies erwies sich als wirkungsvoll, auch wenn<br />

die Wirkungen dem Autor selbst nicht zum<br />

Nutzen gerieten (aufgebraucht, noch die Heimtücke<br />

des Amnestiegesetzes in seinen letzten<br />

offenen Brief angreifend, starb Zola bereits<br />

1902). J'accuse wurde zu einer Reliquie der<br />

Republik, 1986 zum nationalen französischen<br />

Kulturerbe, zum ,großen Augenblick des Gewissens<br />

der Menschheit', wie Anatole France<br />

bei Zolas Begräbnis gesagt hatte. Der gesellschaftspolitische<br />

Umschwung in Frankreich seit<br />

1898 wurde vor allem Zolas beispielhaftem<br />

Engagement und den weiten Kreisen, die dies<br />

zog, zugeschrieben. Bis 1908 hatten die Dreyfusards<br />

fast alles erreicht, was sie angestrebt hatten.<br />

Einmischung aus Tradition<br />

Im Anschluß an J'accuse (zunächst ein rechtsextremes<br />

Schimpfwort mit den Konnotationen<br />

vernunftszentriert, instinktlos, politisch inkompetent,<br />

kosmopolitisch, unpatriotisch, zersetzend,<br />

jüdisch unterwandert, das wie viele<br />

Schimpfwörter seither zum Ehrentitel umgewertet<br />

wurde) wurden die Intellektuellen zu<br />

einer konstitutiven politischen Größe. Mindestens<br />

2.000 von ihnen hatten gegen die Rechtsbeugung<br />

der Affäre unterschrieben - solcherarts<br />

eine Tradition begründet, die auch in<br />

PULSSCHLAG<br />

Deutschland der vergangenen Jahre noch Bestand<br />

hatte. Mit Spannung hatte auch ich die<br />

vielen Listen gegen vielfältiges Unrecht - mit<br />

Wolfgang Abendroth beginnend, mit Gerhard<br />

Zwerenz endend - immer erwartet. Das Konzept<br />

bedeutete, mit kritisch-rationaler Potenz,<br />

mit der Macht des bloßen Wortes und skeptisch<br />

gegenüber Autoritäten aufklärerische Ideen in<br />

der Gesamtgesellschaft durchzusetzen. Diese<br />

Tradition politischen Engagements und moralischer<br />

Verantwortung ist in der französischen<br />

Gesellschaft bis heute verankert. Ironischerweise,<br />

so lese ich, hat Roman Herzog neulich in<br />

einer ebenso überfälligen wie verspäteten Rede<br />

zu Ehren Heinrich Heines ausgerechnet ,die<br />

Einmischung des Schriftstellers als Wert an<br />

sich' gewürdigt. Und der Journalist Roderich<br />

Reifenrath nennt als Ausnahme, wohl Günter<br />

Grass' Buchmessen-Rede im Auge habend, die<br />

,häufig zynisch klingende Kritik Nachkommender<br />

an der Interventions-Rhetorik der Alten'.<br />

Dabei ist Reifenrath vielleicht wider Willen,<br />

zynisch genug, wenn er,festhält': ,Die Intellektuellen<br />

mischen sich nicht oder nicht hörbar<br />

genug in die gesellschaftlichen Streitgespräche<br />

ein.' Der Zynismus fällt ins offene Ohr: Erst<br />

wird, um in der Metapher zu bleiben, einem<br />

Bündel gesellschaftlicher Klassenströmungen<br />

ein Megaphon nach dem anderen aus der Hand<br />

genommen, um dann diesem umgehend den<br />

Vorwurf zu servieren, die Einmischung sei nicht<br />

hörbar genug. Zuerst wird die Einmischung<br />

medial nicht mehr zur Kenntnis genommen und<br />

dann gerät Reifenrath in seiner Verlustanzeige<br />

auf Scheinfragen folgenden Typus: Gibt es keine<br />

Intellektuellen mehr, die sich der Themen<br />

annehmen wollen, mit denen die parlamentarische<br />

Demokratie konfrontiert ist, oder sind die<br />

Themen nicht adäquat? Selbst wenn wir nicht<br />

Antonio Gramscis Aussage zum Ausgangspunkt<br />

nähmen, derzufolge jeder Mensch ein Intellektueller<br />

sei, aber nicht jeder Mensch die Funktion<br />

eines Intellektuellen habe, bleiben genug geeignete<br />

Intellektuelle übrig, möglicherweise knapp

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