Vollversion (5.41 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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PULSSCHLAG<br />
DOKUMENTATION<br />
J'accuse -<br />
Anklage und Plädoyer 1<br />
Sicherlich ist mein J'accuse' (Ich klage an)<br />
nicht unmittelbar mit dem gleichnamigen Original<br />
zu vergleichen, jenem historischen offenen<br />
Brief, den der bedeutende französische<br />
Schriftsteller Emile Zola als Plädoyer am 13.<br />
Januar 1898 - also vor 100 Jahren - an den<br />
französischen Präsidenten richtete. Zum einen<br />
hatte Zola seine offenen Briefe immer über<br />
Zeitungen lanciert (zunächst über den immer<br />
noch bedeutsamen ,Figaro'; als diesem die Sache<br />
zu heiß wurde, über ,L'Aurore', dessen<br />
Auflage durch diesen offenen Brief auf200.000<br />
Exemplare stieg) und dies in einer Zeit, als das<br />
Schreiben von Intellektuellen in Tageszeitungen<br />
wesentliche Wirkungen zu entfalten neigte.<br />
Zum anderen war der Fall Dreyfus geeignet, zu<br />
polarisieren und - wie im heutigen Mediengeschehen<br />
- Personalisierung in den Vordergrund<br />
zu stellen.<br />
Der Fall Dreyfus<br />
Um den Sachverhalt zu skizzieren, der auch<br />
meiner Generation schon mehr vom Hörensagen<br />
bekannt war, und erst recht den seither<br />
folgenden: 1894 wird unter fadenscheinigen<br />
Begründungen der Offizier Alfred Dreyfus wegen<br />
Landesverrats zu Degradierung und lebenslanger<br />
Verbannung nach Französisch-Guayana<br />
verurteilt. 1895 und 1896 gelingt es seinem<br />
Bruder, eine Reihe von Indizien zu finden, die<br />
einen Justizirrtum nahelegen. Da Dreyfus jüdischer<br />
Abstammung ist, entstehen zwei Parteien,<br />
die linken und liberalen Dreyfusards und die<br />
konservativ-antisemitischen Anti-Dreyfusards.<br />
Immer weitere Beweise tauchen auf, die auf<br />
Dreyfus' Unschuld hinweisen; gleichzeitig er<br />
FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 11, HEFT 4,1998<br />
gießt sich eine Flut antisemitischer Hetzzeugnisse<br />
über Frankreich. Die Affäre Dreyfus wurde<br />
zum Symptom einer fundamentalen Staatssache,<br />
zu deren Beilegung zwei unterschiedliche<br />
Konzepte verfochten worden waren: Die<br />
rechten Anti-Dreyfusards setzen auf Ordnung,<br />
Autorität, Nation, Antisemitismus und Kritik<br />
war ihnen Netzbeschmutzung. Die Dreyfusards<br />
verfechten Humanität und Aufklärung. Nachdem<br />
1898 entdeckt wurde, daß das Hauptbeweisstück<br />
gegen Dreyfus gefälscht worden war<br />
(etwa ein halbes Jahr nach J'accuse), erfolgte<br />
1899 eine Revision des Verfahrens, das Dreyfus<br />
wenigstens mildernde Umstände attestierte.<br />
Dreyfus wurde 1899 begnadigt (er hätte sonst<br />
die Haftbedingungen in Französisch-Guayana<br />
kaum überlebt), 1900 amnestiert, 1906 rehabilitiert<br />
und wieder in die Armee aufgenommen,<br />
zudem wurde er Mitglied der Ehrenlegion.<br />
Zolas Anliegen<br />
Allein daraus, wo es vielen von uns durchaus<br />
vorstellbar wäre, wie eine solche Geschichte -<br />
ereignete sie sich denn heute - in Bild, Spiegel,<br />
Focus oder taz erzählt werden würde, läßt sich<br />
die Differenz, die eine mediale Differenz ist,<br />
darstellen. Wie seine Gegner setzt Zola auf<br />
Personalisierung, Vereinfachung, Emotionalisierang,<br />
Psychologisierung. Er nennt die Namen<br />
der Schuldigen, ihre Motivationen und<br />
ihren Anteil an der Schuld. Seine Absicht ist<br />
auffällig: Selbst angeklagt zu werden, und im<br />
Zuge der zu erwartenden Anklage zu einer Wiederaufnahme<br />
des Verfahrens beizutragen. Aber<br />
diese Rechnung geht nur teilweise auf, denn<br />
Zola wird angeklagt, verurteilt und flüchtet nach<br />
England; die erhoffte Wiederaufnahme erfolgt<br />
allerdings aus anderen Gründen.<br />
Zola konstruiert aus der Affäre ein Drama mit<br />
Entwicklung, Höhepunkt und verweigerter Lösung.<br />
Rolf Bernhard Essig detailliert dies wie<br />
folgt: Die Untersuchungsmethoden des am Justizirrtum<br />
Hauptschuldigen seien wie die Anklageschrift<br />
von Inkompetenz, Manipulation