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Arbeitsteilung und Ideologie - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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DAS ARGU\IENT 13611982<br />

886 Besprechungen<br />

Um 1900 findet eine Verkehrung von Literatur <strong>und</strong> Leben statt: Unter totalem Verzicht<br />

auf Wirklichkeit entscheiden sich des Esseintes <strong>und</strong> Dorian Gray <strong>für</strong> ein »Leben<br />

wie man liest« (Musil). Der vermeintliche Lebensextrakt entpuppt sich aber als Lebensunfahigkeit.<br />

Gerade an diesem Punkt wäre eine literatursoziologische Betrachtungsweise<br />

vonnöten; Studien zur sozialen Funktion des Schriftstellers um 1900 legen die sozialpsychologische<br />

Verzahnung dieser Lebens- bzw. Lesehaltung nahe.<br />

Die Ausklammerung literatursoziologiseher Fragestellungen, etwa nach Lesestoff <strong>und</strong><br />

-weise, ist zu kritisieren. Dennoch ist Wuthenows Studie eine empfehlenswerte literatursowie<br />

wahrnehmungs<strong>kritische</strong> Abhandlung, die ein durchaus breites Publikum (Vokabular<br />

ist nicht akademisch überfrachtet, Übersetzungen der fremdsprachigen Textbeispiele<br />

sind in einer Appendix versammelt) auf die Gefahr aufmerksam macht, das<br />

Leben/Lesen aus »zweiter Hand« mit dem wirklichen zu verwechseln. Um so ärgerlicher<br />

sind die zahlreichen Druckfehler.<br />

Achim Aurnhammer (Heidelberg)<br />

Hermand, Jost: Orte. Irgendwo. Formen utopischen Denkens. Athenäum Verlag, Königstein<br />

1981 (202 S., br., 29,80 DM)<br />

In der vorliegenden Aufsatzsammlung geht es Hermand um die politische Notwendigkeit<br />

utopischen Denkens; die Utopie soll »wieder zu einer wahrhaft progressiven, das<br />

heißt linken Form des Denkens werden« (19). Die Ausarbeitung von Utopien wird als<br />

aktuelle politische Aufgabe der Linken formuliert: da angesichts der weltweit drohenden<br />

ökologischen <strong>und</strong> militärischen Katastrophen die herkömmlichen politischen Strategien<br />

versagen, sind neuartige, utopische Vorschläge dringend nötig. Hermand interessiert<br />

sich <strong>für</strong> das Utopische als eine Denkform, die radikale Alternativen als »sinnvolles Leitbild<br />

der Befreiung« (19) zu artikulieren vermag. Der Begriff des Utopischen wird von<br />

ihm in dieser Perspektive neu bestimmt: als »echte Utopie« bezeichnet er >>nur das, was<br />

eine soziale Ordnung anvisiert, die nicht rein traumhaft-phantastisch ist, sondern eine<br />

realistische Möglichkeit der Verwirklichung enthält« (7). Mit diesem Interesse an geschichtlich<br />

realisierbaren Zukunftsentwürfen untersucht Hermand in seinen Aufsätzen<br />

verschiedene Strömungen utopischen Denkens.<br />

Zwei Aufsätze handeln von den Hoffnungen auf ein unentfremdetes Leben bei Marx<br />

<strong>und</strong> Brecht. Beide formulieren die Vision einer sinnvollen <strong>und</strong> genußvollen produktiven<br />

Tätigkeit als Konkretisierung ihrer Ideale der klassenlosen Gesellschaft (95ff., 168ff.),<br />

bei beiden steht diese Vision in Spannung zu anderen Überlegungen. Bei Brecht unterstreicht<br />

Hermand den Gegensatz zwischen den Tugenden, die nötig sind, um die ersehnte<br />

»Große Produktion« zu verwirklichen (Gerechtigkeit, Tapferkeitssinn, Disziplin),<br />

<strong>und</strong> einem anti-idealistischen Menschenbild, in dem »die Schwäche, das Niedrige, das<br />

Anpassungsbereite der Menschennatur« (100) betont wird - wie soll da die Revolution<br />

gelingen? Marx nimmt seine Utopie von der »freien Assoziation der Produzenten« wieder<br />

zurück, wenn er die »menschliche Kraftentfaltung« jenseits der Produktion, im<br />

»Reich der Freiheit« ansiedelt. Hermand sieht hier einen Rückfall in das bürgerlich-liberale<br />

Konzept der» Trennung von Arbeit <strong>und</strong> Freizeit, von Leistung <strong>und</strong> Konsum« (171),<br />

wie sie derzeit im Westen die herrschende <strong>Ideologie</strong>, aber auch im Osten gängige Praxis<br />

ist. Hermand schlägt dagegen vor, am Ziel der Aufhebung dieser entfremdenden Trennung<br />

festzuhalten <strong>und</strong> die Marxsche Produzenten-Utopie vor dem Hintergr<strong>und</strong> der gegenwärtigen<br />

ökologischen Problematik neu zu formulieren, etwa durch die Entwicklung<br />

eines »sozial-bezogenen Ethos ..., das weniger den durch den Job ermöglichten Konsum<br />

als den kreativen oder auch pnegend-bewahrenden Beitrag des Einzelnen zur Gcsarntgesellschaft<br />

zum obersten Gradmesser menschenwürdigen Verhaltens erhebt« (179f.).<br />

Visionen ökologischen Gleichgewichts sind auch der Gegenstand der materialreichen<br />

Untersuchung zur Utopie-Welle des ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, in der Hermand die<br />

bis heute andauernde Dialektik »zwischen dem Prozeß der alles Natürliche zerstörenden

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