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Arbeitsteilung und Ideologie - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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814 FriggaHaug<br />

Wir kommen damit zur Frage der Bearbeitung von Geschichten. Da ist zunächst<br />

die Sprachlosigkeit. Sie tritt in den Geschichten auf als Armut an Worten,<br />

damit als Unfähigkeit, überhaupt etwas mitzuteilen. Rückfragen danach,<br />

was genau geschehen war, wie man sich fühlte, worüber man erregt war, wohin<br />

man wollte, treffen stets auf die gleichen Gefängnismauern, den Wünschen<br />

<strong>und</strong> Behinderungen keine Form geben zu können <strong>und</strong> also <strong>für</strong> sie keinen Weg<br />

zu finden. Solche Sprachlosigkeit halte ich <strong>für</strong> eine wirkliche Behinderung bei<br />

der Befreiung, nicht bloß <strong>für</strong> einen Ausdruck davon, daß man kein Dichter ist.<br />

Das Heraustreten aus dem Dunkel der Vorgeschichte, die Bewegung der Frauen<br />

in die Politik, dieser Akt als selbstbewußter Schritt braucht auch die Bewußtheit<br />

des Lebens, braucht den Transport der Erfahrungen in begreifende<br />

<strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> braucht mithin die Sprache. Insofern ist die Delegation der Macht<br />

über Sprache an einige Auserwählte ein Hindernis auf dem Weg der Befreiung.<br />

Eine Aufgabe des Kollektivs ist also auch die einer Sprachschule, die anders als<br />

die wirkliche Schule aus den geteilten Erfahrungen versucht, die Worte zu finden,<br />

die zum Handeln befähigen.<br />

Das gilt auch <strong>für</strong> die häufigste Form, in der die Erinnerungen in Worte gebracht<br />

werden: das Klischee. Man könnte das Klischee wohl auch als Fremdvergesellschaftung<br />

in der Sprache bezeichnen. Anders als die Sprachlosigkeit<br />

ist es unmittelbar geschwätzig, kann auf Einverständnis rechnen <strong>und</strong> verhindert<br />

dabei alles Denken <strong>und</strong> Begreifen. »Er sah ihr tief in die Augen«, »ihr<br />

Herz bebte«, »das Blut wich aus ihren Wangen«, »ein Schluchzen stieg in ihre<br />

Kehle« - gerade die Gefühlswelt der Frauen scheint imperialistisch besetzt<br />

von Klischees, die wie Korsette das angemessene Fühlen <strong>und</strong> Wollen vorgeben.<br />

Der Schriftsteller E.A. Rauter (1978) bezeichnete Klischees als etwas, das ist,<br />

wie »wenn man einen Zwetschgenkern in den M<strong>und</strong> nimmt, den ein anderer<br />

ausgespuckt hat, statt einer Zwetschge«. Klischees sind in gewisser Weise auch<br />

Selbstverurteilungen auf dem ausgetretenen Pfad des Gesollten zu bleiben. Sie<br />

sind in jedem Fall Behinderungen beim Begreifen. So etwa schrieb eine Frau<br />

bei einer Untersuchung über die Einordnung der Körper in die herrschenden<br />

Erwartungen: »Ich entdeckte, daß meine langen lockigen Haare modisch waren<br />

<strong>und</strong> die Aufmerksamkeit auf sich zogen.« Doris Lessing schrieb zu diesem<br />

<strong>für</strong> Frauen so unbegreiflich wichtigen Komplex Haare: der Friseur »entließ sie<br />

mit einer sehr dunkelroten Haarfarbe <strong>und</strong> einer Frisur, bei der sie bei jeder Bewegung<br />

das Gefühl hatte, eine schwere Seidenlast schwinge gegen ihre Wangen.<br />

So war es früher immer gewesen, wie sie sich noch gut erinnerte.« (Lessing,<br />

1978,38) Es geht mir auch hier nicht darum, eine erfolgreiche Schriftstellerin<br />

gegen eine Alltagsschreiberin auszuspielen, sondern ich möchte vorführen,<br />

daß im Unterschied der beiden praktisch-politische Handlungsunterschiede<br />

liegen. Während Lessing zeigt, daß ein erotisch-sinnliches Moment in der<br />

Berührung mit den eigenen Haaren liegt - übrigens würde das niemand verstehen,<br />

wenn es nicht <strong>für</strong> alle fühlbar wäre -, scheint es in der Version unserer<br />

Alltagsautorin, als ob ihre Beziehung zu ihren Haaren ganz allein durch Mode<br />

<strong>und</strong> Aufmerksamkeit von anderen bestimmt sei. Ich halte das <strong>für</strong> eine vulgärsoziologische<br />

<strong>Theorie</strong>, die durch vorgefertigte Wortzusammensetzungen, die<br />

gerade so bereit lagen, zustande kommt, wenn wir nicht nachdenken, nicht

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