Arbeitsteilung und Ideologie - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Arbeitsteilung und Ideologie - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Arbeitsteilung und Ideologie - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
DAS ARGUMENT 136/1982<br />
Erfahrung <strong>und</strong> <strong>Theorie</strong> 811<br />
hat Einfluß auf die Methode der Empirie. Für uns kommt eine Forschung, die<br />
den Menschen als Gegenstand oder Objekt faßt, nicht in Frage. Daß die Form,<br />
das Leben zu erk<strong>und</strong>en durch das kollektive Schreiben von Geschichten, eine<br />
ganz eindeutige Aufforderung ist, Forschung als Selbsttätigkeit zu fassen, liegt<br />
auf der Hand. Erforschte <strong>und</strong> Forschende sind eins. Die Lösung des Subjekt<br />
Objekt-Problems ist fast zu einfach.<br />
So einfach kann jeder schließlich nicht Forscher sein. Das beginnt schon bei<br />
der Wahl des Themas. Wer bestimmt es? Schließlich ist »Alltag« zunächst ein<br />
Chaos. Wer also soll- noch dazu <strong>für</strong> ein Kollektiv - setzen, was ausgewählt<br />
werden soll? Die Fragen um das Monopol der Themenstellung betreffen zugleich<br />
umgekehrt die Frage des Interesses der vielen. Jeder, der einmal in einer<br />
Selbsterfahrungsgruppe war oder auch nur auf Familienfesten oder in Eisenbahnabteilen<br />
den langen Reden einzelner zuzuhören gezwungen war, weiß um<br />
das Problem. Im Gr<strong>und</strong>e möchte keiner hören, was die anderen zu sagen haben.<br />
Man kennt es schon; es ist zudem uninteressant erzählt; die Erzählenden<br />
streichen sich heraus <strong>und</strong> putzen andere herunter; dieses Alltagsgeschwätz über<br />
alles kann man nicht ausstehen. Auch in den Selbsterfahrungsgruppen wartet<br />
jede darauf, endlich selber an die Reihe zu kommen, möchte eher sprechen als<br />
zuhören. In den berechtigten Beschwerden sind schon eine Reihe praktischer<br />
Hinweise an die Bearbeitung von Erzähltem enthalten - ich komme später<br />
darauf zurück. Hier geht es zunächst um die Frage des Interesses <strong>und</strong> die Wahl<br />
des Themas.<br />
Ich möchte behaupten, daß die Interesselosigkeit bei den Erzählungen anderer<br />
nicht allein, nicht einmal wesentlich der Kunstlosigkeit des Vortrags geschuldet<br />
ist, sondern eben jener Auffassung entspringt, daß es im Gr<strong>und</strong>e bedeutungslos<br />
ist, was jeder so alltäglich tut, erfahrt, fühlt usw., bedeutungslos<br />
<strong>für</strong> alle anderen <strong>und</strong> besonders bedeutungslos <strong>für</strong> die Gesamtgesellschaft. Da<br />
es aber auch eben dieses alltägliche Leben ist, in dem sich die Gesellschaft im<br />
Großen reproduziert, wird allein schon ein Wissen darum, so behaupte ich ferner,<br />
die Haltung der einzelnen zu sich selbst <strong>und</strong> zueinander umbauen. Man<br />
nimmt sich <strong>und</strong> andere ernst. Die Forschungsfrage, wie die Systemstrukturen<br />
- etwa die Lohnform, das Geld, das Wachstum der Textilindustrie oder ähnliches<br />
- in meinem Alltag von mir mit welchen Motiven, Hoffnungen, Wünschen<br />
usw. aufgenommen, umgearbeitet <strong>und</strong> getragen werden <strong>und</strong> wie dies die<br />
anderen machen, verwandelt uns unversehens allesamt in Experten unseres<br />
Alltags. Wir erscheinen einander nicht mehr als Zeitdiebe oder Konkurrentinnen,<br />
die sich die Schau stehlen, sondern als Forschende in gemeinsamer Sache,<br />
als Wissende, die die Mosaiksteine liefern können, die zum Bau des Ganzen<br />
verwendet wurden, von uns umbaubar wären. Daß aus unseren Einzelerfahrungen<br />
etwas Gemeinsames erkennbar werden kann, verändert schon unsere<br />
Beziehung zueinander. Die lernende Haltung macht uns ungeduldig <strong>und</strong> offen<br />
<strong>für</strong> jede weitere Information <strong>und</strong> geduldig gegenüber der Unzulänglichkeit der<br />
Berichterstattung. Das gilt, so behaupte ich, <strong>für</strong> jedes Thema, welches unseren<br />
Alltag, unsere Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Strukturen, wie wir sie<br />
vorfinden, verknüpft. Welches Feld dann konkret gewählt <strong>und</strong> bearbeitet<br />
wird, richtet sich am besten nach dem Druck, den die einzelnen verspüren. Es